what if life is just some hard equation
on a chalkboard in a science class for ghosts
the Silver Jews
Meggy wirft die Kinderaugen auf. Aufs Kinderzimmer. Auf die neun Finger, den Wecker. Die morschen Kontinentalplatten. Sie wäscht sich. Sie putzt die Zähne und zieht Jeans und Pullover über den Pyjama. Treppenstufen nimmt sie zwei mit einem Schritt, Schritte zwei mit einem Sturz. Sie greift nach der Kühlschranktür, dem Müsli, dem Schlüssel zum Schloss, schließt das Visier und startet. An ihr vorbei rasen: Wiesen, Kleinhaushälften, Eltern und ältere Eltern. Als sie den Eingang zur Schule erreicht, hört sie das Kippen eines schlecht geparkten Motorrollers hinter sich, geht aber weiter. In der Matheklausur kreuzt sie korrekte Antworten an. Jemand sperrt sie in einen Spind. Jemand schlägt ihr die Bücher aus der Hand. Jemand tritt ihr die Brille aus dem Gesicht.
Hinter den Korridoren, hinter der Schwingtür und den Fahrradständern, hinter dem Schulhof, hinter dem Baseballfeld hängt der leblose Körper des Jungen. Penibel wurde seine Haut in das langweilig symmetrische Geäst des Zauns eingenäht. Nachdem Polizisten den Tatort ausgiebig photographiert haben, lösen sie den Leichnam mit einem Teppichmesser aus den Maschen, wobei die Klinge sowohl am rechten Ellenbogen, als auch an der rechten Ferse bricht. Langsam gleitet er in die Arme des Leichenbestatters, in die Enge des Sargs und den Bauch des Friedhofs. Bis auf einige sind fast alle, die auf die High & Low High School gehen, zum Begräbnis gekommen: Lehrer, Schüler, Hauspersonal, der Bademeister des Außenbeckens. Benjamins Eltern stehen da, vor ihnen das grableere Rechteck und über ihnen eine belanglose Sonne. Sein Vater mit der dünnen Krawatte und seine Mutter mit einer Kette aus orangenen Perlen. Sie sagt
–Er war nie still, er war nie laut.
Es ist ein Herbst im Jahr 1994. Die Speiseeisverkäufe gehen zurück. Homecoming. Meggys Gesicht ist schön. Meggys Gesicht wäre schön, wenn sie kein Muttermal unter dem rechten Auge hätte. Ihr Gesicht ist entsetzlich. Hinreißend. Je nachdem. Ihre Augen sind grün und blau, links und rechts. Ihre Nase ist fein, ihre Fingerspitzen sind fein und wie aus Holz, wie aus alten Holzlöffeln gemacht, solche, wie sie schon die Großmutter durch den Spinat zog. An der linken Hand fehlt der Ringfinger. Meggy kleidet sich ein in Schichten aus Seide und Kaschmir und Strick, in gedeckte Farben, in Schuhe aus wildem Leder. Sie war nie still, nie laut, nie dumm. Was sie am letzten Sommer gestört hat, das war nicht die Abwesenheit des Schönen, sondern das Abhandenkommen der Heiterkeit, welche einen beim Nichtstun beruhigt und entspannt. Eine parasitäre Vorstellung von Erfüllung hat sich in ihren Gedanken breitgemacht, eine Idee von Selbstüberschreibung und Neuerfindung.
Benjamin wacht auf, er schaut auf den Wecker und flucht. Er flucht in allen ihm erdenklichen Weisen. Flucht gegen das Leben, die Zeit, den Himmel und die Tiere im Wald. Warum hat ihn seine Mutter nicht geweckt, so, wie sie es jeden Morgen tut? Im Schlafzimmer findet er keine Vorfahren, im Wohnzimmer keine. Doch nicht etwa in der Küche? Nein, auch in der Küche etwa nicht. Benjamin schneidet sich zwei Scheiben vom selbstgebackenen Brot ab, toastet sie, belegt sie mit einigen Süßkartoffelstreifen, Sprossen, Brie, Birnenscheiben, Mayonnaise und einem Salatblatt Blattsalat. Es schmeckt gut. Dazu trinkt er Orangensaft und dekoffeinierten Filterkaffee. In Benjamins Vorstellung ist Decaf so etwas wie die Airforce, weil das F am Ende des Wortes ausschaut wie der Flügel eines Kampfjets. Wenn Benjamin in der Kaffeedose eine verzauberte Befehlfee finden würde, welche es ihm freistellt, einen Befehl auszuführen, egal welchen, er würde den Befehl geben, Belgien zu bombardieren. Er findet, dass die Belgier zu gut davongekommen sind, was ihre Verbrechen während und nach der Kolonialzeit angehen. Gerechtigkeit. Dafür, dass seine Mutter nicht da gewesen ist, als er hätte aufstehen müssen, dafür räumt er die Küche nun aber auch nicht auf. Hätte er gewusst, dass eben jenes offen gelassene Mayonnaiseglas für den Rest des Lebens seiner Mutter ein Symbol der Willkür Gottes, eher dessen Nichtexistenz werden würde, er hätte etwas Interessanteres hinterlassen. Oder etwas Einfacheres. Er besteigt sein Fahrrad, fährt zur Schule, zungenküsst Nataly unter der Tribüne, lässt sich einen Witz über seine Sommersprossen gefallen, kippelt, kaut Kaugummi und fällt. Warum bin ich nicht im Baseballteam? Warum hat Nataly so kleine Brüste? Was ist das, die unsterbliche Seele? Kurioserweise fragt sich Benjamin an diesem Tag nur zwei der drei Fragen, wobei eigentlich nur eine so richtig spannend ist. Kommenden Tags wird er am frühen Mittag von drei Jungen gefunden, die im Wald ihre erste Zigarette rauchen wollen. Nataly legt ihre flache Hand auf Benjamins Wange, welche eine große Ähnlichkeit mit der Milchstraße hat. Sie sagt
–Bis gleich.
und
–Das T-Shirt ist dir vielleicht doch etwas zu klein.
oder
–Ich wünschte, du wärst eine Antilope, allein in der Steppe und dann kommt eine wilde Löwin und reißt dich. Ich wäre dann die Naturphotographin.
aber vor allem
–Bis gleich.
Vierzehn Monate später wird ein Hund den Fetzenrest seiner Kleidung in der Nähe einer ganz anderen Stadt in einem ganz anderen Staat finden.
Wer bisher nicht erwähnt wurde: der wütende Rothaarige mit den Pockennarben, die Einäugige.
Am Tag nachdem Benjamins nackter Leichnam am Zaun gefunden wurde, treffen sich Nataly und Meggy auf der Mädchentoilette. Sie stehen nebeneinander an verschiedenen Waschbecken, doch es ist ein Spiegel, der ihre Gesichter zurückwirft.
–Es tut mir leid das mit –
–Ja?
–Ja.
Nataly zeigt ihr den Knutschfleck am Hals.
–Weißt du, woher ich den habe?
–Ist er –
–Es ist das Einzige, was Benjamin noch in dieser Welt hält. Ist der Knutschfleck weg, war es das.
Nataly wühlt mit tränendicken Augen in ihrer Handtasche herum, einer, die voll mit Zetteln und Stiften und Haarklammern und einer Nagelfeile ist. Sie drückt sich das spitze Kosmetikutensil dorthin, wo gestern noch Benjamins Lippen scharf waren. Nataly verliert das Bewusstsein. Meggy wird vom sprudelnden Blut ergriffen und verliert das Bewusstsein. Susie, Susie und Susann kommen ins Bad. Beim Anblick der Blutlache verlieren sie das Bewusstsein. Zum Glück fällt Susie aber derart in den Türspalt, dass ein junger Voyeur seinen Blick unter Susies Rock werfen kann. Sofort verliert er das Bewusstsein. Einige Minuten vergehen, in denen nichts passiert, außer dass Nataly verblutet. Meggy kommt zu sich. Sie zieht die Feile aus Natalys Hals und verschließt die Wunde mit ihrem Daumen. So fahren sie ins Krankenhaus und Nataly überlebt den Spaß, bleibt jedoch für eine Weile unter Selbstmordwacht.
Die Schule schließt für ein paar Tage und Meggy überlegt sich, wie sie von nun an leben soll. Sie hat ein Faible für Radiosender, Nationalhymnen und kurze Bücher. Sie liebt das Kino, weil man dort in die Sonne starren kann, ohne blind zu werden. Was sie nicht hat: ein funktionierendes Familienband, ein Pferd, ein funktionierendes Haarband, einen Pferdeschwanz, Schwänze.
Die Mitglieder des Party Party Clubs sind entsetzt. Wie sollen sie so kurz nach der Hinrichtung eines ihrer Mitschüler einen guten Homecoming-Ball organisieren? Und was ist mit all den Mottos, die sie sich ausgedacht haben? Mörder allgemein – alle gemein, Wir baumeln am Strick der guten Laune oder Hoffentlich stirbt Benjamin bald, all das geht nicht mehr. Es würde ironisch wirken und mehr noch, pietätlos.
Meggy denkt also nach und ihr fällt etwas auf. Sie will Gutes tun und den Menschen helfen. Sie will wie ein Mädchen sein, dem nicht nachzusagen ist, dass es keine Aufgabe in der Welt hat. So schnell bekommt sie aber keine Stelle bei der Polizei und schult daher auf Privatdetektivin um. Sie beginnt ihre Ermittlungen im Fall Benjamin MacNash am Tatort vor dem Zaun. Eisig weht ihr der Wind in die Wimpern. Die Straßen sind grau, der Kosmos trostlos. Ein Indiz, denkt sie sich, irgendein Indiz muss es doch geben. Sie befühlt das Gras und zerreibt einen Käfer zwischen den Fingern, riecht an ihnen. Sie notiert sich: Die Mörderin oder der Mörder muss groß sein und stark und handwerklich geschickt und vielleicht einen Hang zum Stricken und Häkeln haben. Er oder sie muss ohne Skrupel sein, dafür mit Skalpell und vielleicht ein Serientäter. Doch die Spur der Tinte wird von Regentropfen verzerrt. Wer macht so was überhaupt? Also ich meine, wer hat das überhaupt, so extreme Emotionen wie Hass, Liebe oder Lust? Endlich findet sie etwas Handfestes, einen Hinweis. Es ist ihr unbegreiflich, wie die Polizisten diesen übersehen konnten, aber immerhin bestätigen sich dadurch ihre Vorurteile gegen selbige.
Während der Zeit im Krankenhaus scheinen sich Meggy und Nataly anzufreunden.
–Feinde? Ich weiß nicht, ob er Feinde hatte. Eigentlich nicht, wer sollte schon etwas gegen ihn gehabt haben? Er war ein normaler Junge, er hat sich gut mit den Sportlern vertragen, gut mit den Mathematikern, gut mit den Lehrern und Menschen aller Konfessionen, seine Eltern waren schön, fürsorglich, bedächtig und ich habe ihn geliebt.
–Eifersucht?
–Nein.
–Trotzdem würde es mich freuen, wenn ich mal zu euch zum Essen kommen könnte.
–Klar.
–Ich rufe an. Ganz bestimmt werde ich dich anrufen. So gegen frühen Abend einmal?
–Sicher.
Die Asymmetrie macht Nataly Angst, Meggys Gesicht erinnert sie an etwas, an irgendetwas.
Des Novembers Gedärm, es ist kalt. Meggy hat in der Matheklausur ein A. Sie ist die Beste. Mister Cello lobt sie. Nach dem Unterricht sperrt man sie in einen Spind, schlägt ihr die Bücher aus der Hand und tritt ihr die Brille aus dem Gesicht. Das Geräusch einer startenden Flugzeugturbine dröhnt in ihren Ohren. Sie hat Angst zu explodieren, allein, hilflos im Dunkeln. Sie schreit und schreit.
Nataly hat sich für die Skifreizeit eingetragen, aber fühlt sich unwohl, da sie als vom Tod gefickt gilt und eine Außenseiterin ist. Was sie ungemein ärgert.
Home-o-ween. Da die Stadt noch die gute Trauer in sich trägt, hat sich der Party Party Club dazu entschlossen, doch keine Party zu machen, sondern eine illegale Party in einer alten Maschinenhalle, die früher eine Fleischerei war und davor ein Krematorium. Weil ja auch Halloween ist und Kürbisse gegessen werden. Nataly, Miranda und die beiden Boys Joseph und Lenny sitzen in einem Auto und schaukeln durch die Straßen, um faule Eier auf Häuser zu werfen und Briefkästen mit Baseballschlägern einzuschlagen. Nataly hat Miranda auf der Skifreizeit kennengelernt und die beiden berührten mindestens eine angespannte Wade der jeweils anderen. Die Vorstellung, sich jemals wieder zu verlieben, in einen anderen Jungen, als Benjamin es einer war, kam ihr widerwärtig vor, falsch, und um es nun Gott endlich heimzuzahlen, vergeht sie sich an Frauenfedern. Da das soziale Aus aber in der Nähe von gleichgeschlechtlicher Liebe herumlungert, geben beide vor, ein Date zu haben und so fahren sie zu viert herum und sprechen oft nicht viel, dafür läuft gute Musik.
–Und auf der Party erst.
–Auf welcher Party denn?
–Habt ihr nichts davon gehört, Mäuschen?
–Mäuschen?
–Na, ihr seid doch zwei spitze Mäuschen, oder nicht?
Was man ertragen muss.
Meggy liegt in der Allee. Sie starrt dem Himmel entgegen, welcher links und rechts und oben und unten von Baumkronen angeknabbert wird. Es rieselt auf sie herunter: Blatt, Blättchen, Baummüll. Das Farbspektrum ähnelt dem einer Autopsie. Sie liegt auf dem Asphalt und trinkt Roggenschnaps. Sie wirft einen schwarzen Stein in die Luft und fängt ihn mit dem Mund, sie versucht zu kauen, aber er ist zu hart. Sie lutscht an ihm, spielt mit ihrer Zunge an dem Stein herum, will ihn irgendwo unterbringen, irgendwo zwischen zwei Zeilen, aber es gelingt ihr nicht. Ihr wird klar, dass das Universum nicht in einem Gleichgewicht und dass das Puzzleteil die zu vermeidendste aller Metaphern ist. Ihr wird klar, dass es nur Messer gibt, die in alles schneiden, und Mägen, die alles verdauen. Sie beißt und beißt auf den Stein, bis ihr ganzer Mund voll ist mit Blut und Zahnsplittern, sie gießt Roggenschnaps dazu und es brennt und in einem Schmerz verschluckt sie alles, den Kalk, das Blut, den Schnaps, den Stein.
Viervierteltakte wiederholen sich abermals. Nataly, ihre geheime Liebschaft Miranda und die beiden Boys Joseph und Lenny stehen in einer Ecke, die viel zu groß für sie ist, und halten sich an einer Erdbeerbowle fest. Wenn man sie sich vorstellen würde, wie sie dastehen, umgeben von Tanzenden und Diskokugeln, dann von ganz weit weg. Mit einer mikrowellenhaften Leere in Kopf und Leben und Tomatensoßenspritzern an der Innenseite ihrer Augen. Alles ist anders, bis alles wieder gleich ist. Nataly fragt sich, während sie tanzt, während sie sich über diese Pille unterhält, die da xtc heißt, die die Boys irgendwoher bekommen haben, irgendwem abgeschwatzt, irgendwem aufgeschwatzt, während sie einen Schluck trinkt, während Miranda mit der Hand versucht, unter ihre Pofalte zu kommen, ob das immer so ist mit den Toten. Ob sie immer zurückbleiben in der Vergangenheit, oder ob es eine Möglichkeit gibt, sie mitzunehmen. Ob sie zuschauen. Sie weiß noch, wie sie einmal mit ihren Eltern auf Hawaii war, sie und ihre Schwester waren Nächte entfernt von der Geschlechtsreife, es war eine unbeschwerte, eine herrliche Zeit. Und an der Theke einer sonnigen Strandbar erzählte ihr ein alter Mann vom Voodoo. Blitzlicht, Nebel, Zigarettenwetter. Waren das alles Tote, die in der Gegenwart vergessen wurden? Später sitzen Nataly und Miranda auf dem Rücksitz eines Autos. Sie spucken auf die Morgensonne. Sie suchen Schutz und Wärme. Sie berühren sich nicht, sie erzählen sich bloß von wertgeschätzten Kriminalromanen und Nataly fragt sich insgeheim, ob es ein Geschenk der Welt an sie ist, dass sie so verdammt gut darin ist, andere glücklich zu machen.
Benjamins Mörder wird von der Schülerzeitung Vollstricker genannt.
–Warum nicht Vollstrickerin?
fragt niemand.
Nataly war es nicht. Das weiß Meggy. Klar, sie ist gewaltbereit, in der Strick- und Stick-Society, außerdem emotional waghalsig, aber dennoch nicht abwegig. Überhaupt zweifelt Meggy daran, dass es jemand aus der Schule war. Die Art des Mordes, der Schlag mit dem Hammer auf den Schädel, die Lust am Knacken und das akribische Ausstellen der eigenen Arbeit, das wirkt nicht wie etwas, was Schüler der High & Low High School machen würden. Alle ihre Bekannten sind viel zu faul, als dass sie den Aufwand nicht scheuen würden.
Miranda schläft ein, Nataly untersucht sie. Ihre Brust bewegt sich auf und ab, die Luft in ihren Lungen ist warm, ihre Haut, der dünne Fetzen, der sie vor dem Auslaufen bewahrt, zart. Man könnte Brillengläser mit ihrer Haut putzen. Nataly fährt ihr über die Lippen. Nimmt sich die Unterlippe. Hält sie zwischen Daumen und Mittelfinger. Zieht. Und spuckt ihr in das Schiffchen zwischen Mund und Zähnen. Ihr Gesicht ganz nah an ihrem. Sie fasst sich in die linke Hosentasche und in die rechte und schläft ein.
Als Benjamin 14 Jahre alt wurde, waren er und Nataly bereits zwei Jahre zusammen. Also schenkte sie ihm etwas Besonderes, denn sie waren sich sicher, dass sie füreinander und die Ewigkeit geschaffen waren. Es war der Ring, den sie im Wald fand. Er war aus Holz und Gold. Als Widergroßherzigkeit bekam Nataly zu ihrem Fünfzehnten auch einen Ring. Benjamin gewann diesen aus dem Draht seines geliebten Röhrenfernsehers. Sie waren verliebt und ernst und es war gut. Als klarwurde, dass Benjamin ein verstorbener junger Mann ist, knipste sich Nataly den Ring vom Ringfinger und den Ringfinger von der Hand.
Einmal, es ist bereits kurz davor, Frühling zu werden, treffen sich Nataly und Meggy draußen auf dem Feld. Der Winter war nie da gewesen und der Boden weich, das Licht noch gefroren. Beide strecken sie der anderen die Narbe der linken Hand entgegen. Die Verkrüpplungen greifen ineinander wie Zahnräder einer antiken Mechanik.
–Hast du gehört, es soll ein älteres Pärchen aus dem Wald gewesensein, welches in einer Hütte wohnt, das deinem Geliebten das Leben nahm.
–Ich weiß.
–Sie werden morgen hingerichtet.
–Ich weiß.
–Sie waren es aber nicht.
–Ich weiß.
–Komisch.
sagt Meggy.
–Nicht so wichtig. Wir müssen weg von hier. Wir müssen raus, raus aus allem.
Doch wo einmal ein Wunsch war, da wächst nichts mehr.
Das Stadion befindet sich am Rand der Stadt, welche von einem Wald und einem kleinem Berg begrenzt wird. Dieser ist die einzige Erhöhung in einem Radius von mehreren zehntausend Metern, mit Ausnahme vom Kirchturm der Kirche. Überhaupt ist es ein flaches Städtchen, auch wenn man meint, dass die Häuser drei Stockwerke haben, so sind die Wände der einzelnen Räume derart niedrig, dass es eigentlich, verglichen mit den meisten anderen ostamerikanischen Städten, nur zwei Stöcke sind. Dafür gibt es breite Straßen und der Wind pfeift kaum. Alles ist entweder graugrün, weiß oder rot, abgesehen von den Telefonmasten, welche erstaunlich schwarz sind für ihr Alter. Auch die Kabel, die telekommunikative Partitur aus den frühen Sechzigern, als hier alles neu gemacht wurde, die Häuser, die Straßen, der Himmel, haben nichts von ihrem Schwarz eingebüßt. Die Kirche steht nicht direkt im Zentrum der Stadt, stand sie nie, sondern ist dort, wo, würde man das Städtchen mit einer Dartscheibe vergleichen, von oben gesehen, die Dreifach-Neunzehn liegt. Der Kirchturm steht da und ist von überall aus zu sehen, ist jedem, der es sich selbst gegenüber für angemessen empfindet, ein mahnender Zeigefinger, wie er da dem All entgegenragt. Natürlich lächerlich niedrig und nicht ansatzweise wolkenkratzend, doch immerhin höher als alles um ihn herum, kalt und streng. Wobei die Strenge schon an der eigenen Fassade aufhört, da die Uhrzeiten, welche er in die vier Himmelsrichtungen zeigt, jeweils falsch sind. Jede auf ihre eigene, nicht nachvollziehbare Weise. Gerüchten zufolge gibt die Norduhr drei Mal am Tag die richtige Zeit an, man muss nur genau hinschauen. Das ist also die Kirche. Aufgrund einer Bürgerinitiative findet die Exekution ausnahmsweise im Stadion statt. Meggy und Nataly gehen gemeinsam hin. Überall sind Holzspäne ausgestreut und um das Kampffeld herum stehen Sicherheitsmenschen mit Wassereimern und Decken. Das Pärchen aus der Hütte im Wald wird schreiend und bettelnd in die Mitte geführt, in das Blickfeld der ausverkauften Ränge. Die Sicherheitsmenschen nehmen ihre Decken, werfen sie auf die Verurteilten und prügeln sie daraufhin mit den Wassereimern zu Tode. Das Ganze dauert 47 Minuten und die Eisverkäufe sind schlechter als erwartet; dafür verdienen die Nüsschenverkäufer eine Menge.
Nach dem Spektakel schlendern Meggy und Nataly gemeinsam durch die Innenstadt. Einem Ort der Leere, der verstaubten Fensterfassaden und der Straßenlaternen. Früher gab es ein Fischgeschäft und ein Käsegeschäft, es gab Spezialisten für Schuheinlagen, für die Lottozahlen und Pistazieneis. Es gab Tresen und Theken, einzigartig in diesem Land, Inseln des Fachwissens über beispielsweise Kürbisse. Es gab eine Frau, die ein ganzes Geschäft nur für Kürbisse hatte, es gab Kürbisse in der Form von Schnecken, von Phiolen und Blumenkohl, heute hat es geschlossen. Die Innenstadt ist zu einem großen langen Sonntag geworden, mit Ausnahme vom Diner. Alles, was die Bewohner der Stadt sonst zum Leben brauchen, müssen sie sich in den Kellern und Katakomben suchen, im Kanalisationssystem, dort, wo sich im Sommer '92 der Darkmart einrichtete. Still hat er seine Regale in den Untergrund gemeißelt und verdrängte Parzelle um Parzelle alles ökonomische Leben aus der Stadt. Manchmal, in den kurzen Nachtstunden, in denen der Darkmart nicht geöffnet hat, da steigt ein Dampf durch die Abwasserdeckel herauf und der Geruch von verbranntem Stein, man hört das leise Winden der Verkaufsregale unter der Erde, den Tatzelwurm aus Tupperware, Fleischkonserven und Milchgallonen, seinen heißen Atem. Nataly redet viel von Miranda, und davon, dass ihre Eltern und Schwester nichts wissen dürfen von dieser verbotenen Liebe und wie schön es aber ist, und wie unterschiedlich die Liebenden im Lieben seien. Sie setzen sich ins Diner und werden von einem patzigen Matrosen bedient.
–Was darfs denn sein? Ein Salatblatt für die Häschen?
–Nein.
–Zwei große Coke, Zucchinibürger und Fries.
Aus ihrer Tasche zieht Meggy den Hinweis, den sie gefunden und dann vergessen und dann wiedergefunden und dann wieder vergessen und dann zufällig auf dem Schreibtisch gesehen und dann verlegt und dann vom Gedächtnis zurück ergattert hatte, um ihn Nataly zu zeigen. Den vom Tatort. Beide wissen nichts damit anzufangen.
–Also.
–Es scheint eine Art geometrischer Nebel zu sein.
–Oder vielmehr ein Besteck.
–Vielleicht ein Schlüssel?
–Oder eine Kurbel?
–Vielleicht ein Motor?
–Oder ein Werkzeug?
–Vielleicht ist es Kunstwerkzeug?
–Oder Kunst?
–Vielleicht Zeug?
Sie sind sich uneinig. Das Essen kommt und Nataly vergeht die Lust am Rateraten, sie denkt sich insgeheim, dass sie ihr Gegenüber verachtet. Meggy ist asymmetrisch-eigenwillig bis uninteressant und außerdem schlecht gepflegt. Es kommt oft zusammen, weiß Nataly, dass schöne Menschen spannend und aufregend sind, schlau und schnell, während weniger schöne Menschen einen Abhang zum Banalen haben. Wer ihr, also Meggy, denn dann helfen könnte, bei der Identifizierung des Hinweisgegenstands, das wäre wohl eher Bobby, der König des Knabenlands.
–So? Und wer ist das? Und wie soll ich ihn kennenlernen?
–Ich kenne da wen.
sagt Nataly. Angst, Glück, Angst und Glück. Weil ihnen der Matrose gefällt, geben sie sehr viel Trinkgeld. Meggy bleibt noch etwas sitzen und notiert sich etwas.
Mittlere Vögel singen und zwischen den halbhohen Häusern der Stadt stolpert Nataly ins Grübeln. Stöcke, Steine, Kronkorken drücken sich scharf in die durchgetretenen Sohlen ihrer Turnschuhe. Sie kaut auf ihrem Haar herum. Danach auf dem Knoten ihres Freundschaftsarmbands, danach auf ihren Fingernägeln, Kuppen, Gelenken. Schließlich hockt sie sich hin und kaut auf ihrem Knie herum. Was, wenn sich Meggy wieder mit mir treffen will? Was, wenn sie meine Freundin sein will? Was, wenn niemand jemals diesen Mord aufklärt? Wie viel Zeit soll ich noch mit dieser Person verbringen? Was für Anlässe wird sie wohl finden, mich anzurufen? Mich mit ihr zu belästigen. Nataly beißt. Mit den Schneidezähnen hat sie ein kleines Loch in ihr Knie gepult und reißt dieses nun mühselig weiter auf. Sie hat sich auf die Seite gelegt, mitten auf den Bürgersteig und schleckt träumerisch über die offengelegte Kniescheibe. Später dann, viel später, als sie endlich eingeschlafen ist, da kommen Joseph und Lenny vorbei mit ihren roten Rollern und entführen sie. Sie bringen sie nach Hause und Joseph hat sie sich in seine Arme gelegt und ist vorbei an der Tür, an der Mutter, an dem Vater, in ihr Zimmer und bettet sie. Er häutet sich aus Trainingsjacke und Shirt, legt sich zu ihr. Seine Arme zum Kissen verschränkt. Er bietet ihr eine Zigarette an, sie schüttelt den Kopf. Er bietet ihr seine Zunge an, sie schüttelt den Kopf. Auf seiner Brust glänzt ein kleiner Jesus an einem kleinen Kreuz.
–Glaubst du an Gott?
Er zieht Nataly den Rock aus, küsst ihre Füße, ihre Schienbeine, ihre Oberschenkel, ihre Hüften, den Stoff ihrer Unterwäsche, der lauwarm ist, und sie kreischt, schimpft und spuckt, hört nicht mehr auf. Sie ballt ihre Finger zur Faust und schlägt ihm in den Nacken. Ihre Schwester, die bisher bloß zugeschaut hatte, nimmt einen Filzstift und rammt ihn Joseph in die Rippen. Er wehrt sich nicht. Auf seiner Haut bilden sich feine Risse. Zu dem Geruch der Lust gesellt sich der Gestank der Angst.
An der High & Low High School gibt es strikte Regeln, etwa wer wann wo was in der Mensa essen darf, und wie lange. Natürlich bekommen nicht alle Essen ohne Fleischbeilage. Manche Schüler müssen ganze halbe Jahre lang Hack, Gulasch, Schnitzel, Gulasch oder Gulasch essen. Die Regeln greifen auch auf andere Bereiche des Alltags, sogar auf alle. Halten Schüler und Schülerin sie ein, so ist das die Entscheidung für die ritualisierte Demütigung und gegen die Grausamkeiten der Improvisation, welche ungleich schrecklicher sein können. Vorrang erhält, wer älter, schöner oder wohlhabender ist. Meggy hat ein Problem mit diesen Strukturen. Da sie sie schlicht nicht erkennt, kann sie sie nicht respektieren, kontextualisieren oder reproduzieren. Vielleicht, weil sich ihr gesamtes Leben rein in der Gegenwart abspielt. Vielleicht aus Kalziummangel. Vielleicht ist dieses Problem, welches ihr großes Lebens- und Weltproblem ist, auf eine Eigenart und Weise der große Vorsprung, den sie dieser voraushat.
Als Nataly an die Decke ihres Kinderzimmers starrt und die Stimme ihrer Schwester ignoriert, klingelt das Telefon und sie blendet alles aus. Wo Joseph ist, das weiß sie nicht, nicht einmal, ob er überhaupt bei ihr war. Ihr Blick schwenkt von der Decke zur Wand. Benjamin hatte ihr einmal Reign in Blood von Slayer geschenkt und sie seinen kleinen Angel of Death genannt. Sie hatte sich daraufhin ein Slayer-Poster gekauft und es an die Wand gehängt. Miranda hatte ihr eine Kassette mit ihren Lieblingsliedern aufgenommen und sie fragt sich, ob sie nun ein Poster an die Wand hängen soll, welches Miranda abbildet, oder eines von den Interpreten ihrer Lieblingslieder. Natalys Vater Henry, ihre Mutter Amy und ihre Schwester Emily legen sich in dieser Reihenfolge zu ihr ins Bett. Amy fragt, warum sie denn nicht an das Telefon gegangen, ob sie denn nicht gewusst habe, wer da dran gewesen sei. Nein, das weiß sie nicht.
–Woher denn? Wer denn?
Es ist niemand an das Telefon gegangen.
–Wollen wir zu Abend essen?
Aber alle sind sie satt und bleiben liegen. Sie überlegen sich, wer es hätte sein können, wer um diese Zeit anruft. Die Verwandten aus Zürich? Die Beschmutzer? Der Wärter mit den Holzaugen? Die Gefallenen? Sie sitzen da und an ihnen ziehen die verpassten Leben vorbei, die Tage im Park, die ruhigen Stunden und die Hände. Vor allem die Hände, die ihnen über ihre Oberarme gestrichen und Schatzkarten auf Rücken gezeichnet hätten. Wie sie am Bahnhof gestanden hätten, und das plötzliche Umschlagen von Zärtlichkeit zu Lust sie dazu bewegt, die Muskeln zu verkrampfen. Den anderen halten, übergriffig werden und verschlingen.
Lenny ist dünner als Joseph. Man kann seine Rippen, seine Handgelenke erkennen unter der Haut. Er hat dickes kurzes schwarzes Haar und trägt eine Nickelbrille, die am rechten Rand mit Hefe und Backpapier geflickt wurde. Er besitzt viele Schallplatten und einen Schallplattenspieler, außerdem einen roten Roller. Nachts, wenn sein Vater schläft, geht er an den Schrank mit den Flaschen und an den Schrank mit den Büchern. Aus beiden nimmt er sich die schönsten Ausgaben und fährt mit dem roten Roller durch die Alleen. An jedem Platz, der ihn an Joseph erinnert, hält er an, liest ein Kapitel und stürzt einen Schluck. Als ihm auffällt, dass es in der russischen Literatur von gestern einmal Mode war, kurze Kapitel zu schreiben und in der schottischen Braukunst von heute ist, starke Schlücke zu manufakturieren, ist es zu spät. Er ist unwahrscheinlich betrunken. Er fährt in einen Zaun und einen Graben, verliert den Kontakt zu seinen Beinen und Teile seiner Gliedmaßen. Der Unfall hat Lenny verändert, nicht nur, dass er seinen rechten Fuß nachzieht, er ist leichter geworden. Als er dort lag, zwischen Latten und den Scherben seines Frontlichts, das Gesicht auf dem Boden, zwischen den Splittern, den Blick auf die blutige Hand, wie Tropfen entstehen und in den Boden sickern, wie alles ein Schwarz wird, als er gewartet hat auf irgendjemanden oder irgendetwas, ihn von seiner Bewegungslosigkeit zu befreien, da ist etwas in ihm gekeimt. Eine Pflanze, die größer und stärker wurde mit jeder Minute Stille. Die Kraft einer gefüllten Badewanne. Er liest alle Bücher seines Vaters und hört alle Schallplatten, die der Schallplattenladen anbietet. Joseph kommt ihn oft im Krankenhaus besuchen, doch Lenny ist es gleich. Einmal kommen sogar Miranda und Nataly zu ihm.
–Wie geht es dir?
–Ich weiß, dass ihr ein Paar seid.
–Wir wissen, dass du Joseph liebst.
Unter Einfluss von Drohungen verlassen sie sofort den Raum. Lenny lässt sich ein Gibson SG und mehrere Verstärker und Verzerrer in sein Krankenzimmer liefern. Er spielt ein experimentelles, flächiges, lärmiges und zum Teil extrem entstelltes Gitarren-Album mit dem Titel Doom Town Boys auf den Anrufbeantworter von Joseph. Diese Kompositionen sind, verglichen mit der Musik, die in der Zukunft noch entstehen wird, durchaus gewöhnlich, für die Gegenwart allerdings wegweisend, beziehungsweise wären es gewesen, wenn Josephs Vater den Dreck nicht sofort gelöscht hätte, denn so viel passt nun mal nicht aufs Band.
Die Direktorin der High & Low High School trifft Meggy auf dem Flur, alleine und mit zuckenden Augenlidern.
–Was machst du denn hier auf dem Flur?
Meggy bricht unter sich zusammen.
–Was ist denn?
Meggy stemmt ihre Arme gegen den Linoleumboden, versucht das Gewicht ihres Körpers zu halten.
–Meggy?
Sie übergibt sich.
–Was hast du denn?!
Schüttelt sich vor Kälte.
–Schnell einen Arzt!
Sie blickt die Rektorin an. Sie flüstert.
–Die Zeitungen sind schlecht. So ohnegleichen schlecht. Ich ertrage es nicht mehr. Es ist zu viel. Das hält niemand aus. Diese Bazillen, diese Krankheit, die sich Journalismus nennt.
–So? Dann geh doch in die Schülerzeitung und mach es besser.
Mit letzter Kraft schlägt Meggy der Direktorin ins Gesicht.
–Aber du bist ja ganz wütend. Ich möchte dich in den Arm nehmen.
–Niemals!
Sie kugelt sich davon, schluchzt in die Ferne, einer Umarmung knapp entronnen, und wenn sie allein auf dem Feld steht, und um sie ist nichts als der Geruch der unbebauten Luft, dann spannt Meggy ihre Arme aus und wartet, dass sich der Wind unter ihren Körper legt. Ein Drachen. Sie flattert. Nataly zieht sie an ihrer Schnur zu sich herunter.
–Ich habe gehört, du hast die Direktorin geschlagen?
–Ja.
–Warum?
–Sie hat mich beschmutzt.
–Achso.
–Und das darf niemand.
–Warum wolltest du dich mit mir treffen?
–Ich bin sehr alleine, Nataly.
–Deswegen wolltest du mich sehen?
–Ich habe Angst um dich und Miranda. Das Paar aus der Hütte, sie waren keine Mörder, nicht Benjamins.
–Benjamin?
–Du bist meine einzige Freundin und ich möchte, dass dir nichts zustößt.
Nataly muss sich das Lachen verkneifen, tut so, als würde sie sich ihre Schuhe zubinden und kappt das Seil, welches Meggy mit der Erde verbindet. Sie fliegt davon, verfängt sich in einer Reihe Pappeln, die wie Langstreckenraketen vor dem Horizont herumwachsen.
Zu Hause wird Nataly von ihrer Schwester Emily gefragt, ob sie ihren Vanillepudding essen darf. Nataly stimmt zu, obwohl es ihre liebste Süßspeise ist.
Zu Hause wird Meggy von ihrer Mutter gefragt, warum sie eine grausame Natur hat, doch Meggy schweigt. Sie sitzen zu zweit am Küchentisch, Meggys Mutter trinkt eine halbe Flasche Rotwein und Meggy isst Feigen mit Weichkäse. Meggys Mutter kann ihrer Tochter nicht in die Augen schauen. Auch während der krampfhaften, an sich selbst erstickenden Unterhaltung haftet ihr Blick auf dem Rotweinglas. Meggy schweigt. Sie schauen eine Dokumentation im Fernsehen. Meggys Mutter bringt ununterbrochen Variationen ihrer eigenen dummfeigen Meinungen hervor. Die zahme Soziopathie, die ihrem Charakter anhaftet, verliert sich im Suff. Sie trinkt eine halbe Flasche Rotwein. Meggy macht Hausaufgaben auf ihrem Zimmer. Meggys Mutter trinkt eine halbe Flasche Rotwein. Meggy schließt die Tür ab. Meggys Mutter trinkt eine halbe Flasche Rotwein. Auf jeder Treppenstufe hoch zum Zimmer ihrer Tochter eine weitere halbe Flasche Rotwein. Meggy stemmt einen Stuhl gegen die Türklinke. Sie legt sich ins Bett. Sie trägt Jeans und Pullover über ihrem Pyjama. Eine Ader in ihrem Auge platzt. Als ihre Mutter sie am nächsten Morgen verlässt, um zur Arbeit zu fahren, sie wird mindestens eine Woche fort sein, Schatz, in Santa Fe, tut Meggy so, als wäre es der Kuss eines Jungen, der ihr wollüstig die Seele rauben will, und nicht der ihrer Mutter. Eine Menge Geld hat sie dagelassen, aber die Tochter ist nicht besonders gut im Geldausgeben. Sie ersteht immerfort schlichte und fade Dinge. Sie weiß nicht, wie man einen draufmacht oder -setzt. Und so was. Daher gibt es Mischreisgerichte und Filme von Lucio Fulci. Heute etwa Paura nella città dei morti viventi. Wenn Meggy es sich aussuchen könnte, dann würde sie in den Achtzigerjahren in Italien leben und Mario heißen. Vielleicht würde sie (Mario) in einem Café einer jungen Frau begegnen und mit ihr und mit einem Fahrrad an Strände fahren, um Melonen zu verkaufen. Das Meer wäre aus Wasser und das Wasser tief und blau und klar und salzig. Die Oberfläche wäre nie glatt. Wäre man in dem Meer, man würde auf- und niedersteigen mit seinem Kopf. Vielleicht würde er (Meggy) die junge Frau in einen Schraubstock einklemmen und sie zwingen, all die Kerne zu essen, die die Touristen in den Strand gespuckt haben.
Als Benjamin MacNash geboren wurde, nahmen ihn seine Eltern hoch und hielten ihn ins Licht, wie einen Brief, den man nicht öffnen darf, aber trotzdem lesen möchte. Sie hatten gehofft, in dem Babykörper eine verschlüsselte Nachricht zu finden. Einen Zettel. Wir können alle gerettet werden, erlöst, indem wir unsere Sprache zerstören. Indem wir die Wörter ausweiden und ihre Innereien in die Kadaver anderer Wörter stopfen. Grob und grausam. Bis alle Wörter zerstückelte Restbestände aus unlesbaren Zeichen sind. Erst dann, wenn es unter den Wörtern keine Unterschiede mehr gibt, erst dann kann es unter den Menschen keine Unterschiede mehr geben. Aber der kleine Benjamin stellte sich als ein normaler Junge heraus, nicht als Orakel. Als er schließlich zwölf Jahre alt geworden war, nahmen die MacNashs seine Herkömmlichkeit hin und begannen wieder damit, im Alltag zu lächeln. Außerdem hatten sie Sex. Erst war es gar nicht so einfach, vor allem sein Vater fühlte sich unwohl bei dem Gedanken sein Glied in der Nähe des Geburtskanals zu wissen, welcher ja nun nicht mehr einfach nur so hieß, sondern tatsächlich ein Geburtskanal war, er hatte es mit stolzem Blick gesehen, und in diesen hinein zu penetrieren. Aber nach eingängigen Unterhaltungen begriff er das Geschlecht seiner Frau neu und lustvoll. In der Tanzschule Milk & Milk hatten sie eine Werbeanzeige für exotische Tänze aus Bulgarien und Rumänien gesehen und schnell wurden Tanzen und Sexualität im frühen Alter, neben der Erziehung des Sohns, ihrer beider Hauptanliegen. Bis dieser dann ermordet wurde. Vor allem machen sich die beiden Vorwürfe, weil sie sich in der Nacht vor Benjamins Schädelbasisbruch die Hütte eines befreundeten Pärchens aus der Tanzschule ausgeliehen hatten, um eine schwierige Sexualtechnik zu trainieren. Der Rest ihres Lebens fühlt sich sehr kurz an.
Joseph klagt an.
–Wenn ich morgens in der Dusche bin und mich eingeschäumt habe, wer legt seine Finger um meinen Penis? War ich nicht lange genug ohne Schönes, Edles & Gutes?
Was er außerdem sah, war eine Gestalt, eher eine Person oder einen Schatten, einen schwachen Schatten, vielleicht mit einem Gesicht, aber sicher war er sich nicht. Mehrere Teile dieses Anblicks wirkten eigenartig ineinander verschachtelt. Er mit einem Fellmantel oder einem Federkleid.
–Wo war das?
–Die Gestalt schlich über das Schulgelände, ich bin mir nicht mehr sicher. Ich glaube, ich habe etwas gesehen, es aber sofort vergessen.
Joseph spielt an dem Serviettenspender herum, vor ihm ein großer Erdbeermilchshake.
–Wenn du mich nicht hypnotisiert hättest, ich hätte mich an nichts erinnert.
–Und wann war das, wann genau?
–Am frühen Morgen, gerade war es hell geworden.
–An besagtem?
–An besagtem Tag, an dem man Benjamins Leiche fand.
–Und du hast es niemandem erzählt?
–Bis eben nicht, nein.
Gute Arbeit, denkt sich Meggy und bestellt ein Bier.
–Schon 21?
fragt sie der grimmige Matrose.
–Ne, ist mein Erstes heute.
–Na dann.
Sowohl Meggy als auch Joseph nippen ab und an kopfschüttend am Kaltgüld'nen. Die beiden trafen sich vor einer Woche an ihren Köpfen, weil Meggy in der Rollschuhdisko gegen den Uhrzeigersinn gefahren war. Sie entschuldigte sich, und es fiel ihr auf, dass sie ausgerechnet gegen den Kopf schlug, welchen sie sowieso als ihren Lieblingskopf bezeichnen würde. Sofort begann sie von ihren Ermittlungen im Mordfall Benjamin zu erzählen und Joseph war, da war sich Meggy ganz sicher, ein wenig beeindruckt. Also fragte sie ihn, ob er schon einmal hypnotisiert geworden sei, und dass man so an die geheimsten Dinge des Unterbewusstseins gelangen könnte. Was auch stimmt, nur interessiert sich Meggy in diesem Fall eher für die Tat als das Resultat. Sie will ihm seinen Milchshake spendieren, hat jedoch kaum genügend Bargeld für sich selbst in den Taschen. Das Diner ist eigentlich viel zu bunt für dieses Treffen und die Musik heillos europäisch. Doch Joseph, der seit einer Weile den Titel des unumschlungenen Meisters der Einsamkeit führt, ist froh über jede Begegnung mit einem Mädchen, auch wenn Meggy ihm eher als vergreiste Frau erscheint, die Wirres redet, als als Mädchen. Immerhin findet er sie kauzig und nicht widerlich. Während sie so weiter von einem Täter oder einer Täterin erzählt, die nach wie vor in freien Schuhen steckt, während sie berichtet, ihr die Wörter hastig und totalitär aus dem Mund purzeln, weitet sich der Raum. Joseph hört auf, sich auf das zu konzentrieren, was Meggy von sich gibt, sein rechtes Auge sieht bloß noch ein grelles Loch hinter dem Tresen, das linke versucht entgegenzusteuern, auszugleißen. Die Tische, Stühle, Gäste und Pommes um sie herum entfernen sich weiter und weiter, Konturen werden unscharf, weiß und leer, die Geräusche des Raumes fliegen zusammengeknüllt von einer Wand an die andere.
–Das Gesicht! Joseph!
Meggy kneift ihm in den Unterarm.
–Hör mir zu! Das Gesicht! Wessen Gesicht war es?
Doch Joseph kennt den Namen nicht, der von ihm verlangt wird. Er stottert, seit wann stottert er?
–Ich weiß es nicht. Ich. Ich. Ich.
Meggy streichelt ihn. Schon gut. Und als Joseph das Diner wieder verlässt, ist das Diner wieder das Diner. Es beruhigt ihn, allein zu sein, doch sein Versäumnis einer genaueren Beschreibung wird ein wenig dazu beitragen, dass seiner kleinen Schwester die Handgelenke durchgestrichen werden. Später. Auch ihre Haut wird von dem Vollstricker in einen Zaun eingearbeitet gewesen worden sein.
Chesley wacht auf. Sie hat geträumt, eine Oper geschrieben zu haben, in der alle Rollen von Autisten, Kleinwüchsigen und Polizisten gespielt werden. Unmittelbar wird ihr Weltruhm zuteil und es regnet Banjosaiten. Beim Zähneputzen fällt ihr auf, dass gute Country-Sänger oft nicht singen können. Sie trägt einen Schlüpfer und ein altes Hemd ihres Vaters, die Zahnpasta läuft ihr langsam und sämig aus dem Kopfloch, sie betrachtet sich und das Badezimmer in frühmorgendlicher Entgrenztheit. Sie spuckt gegen den Spiegel.
–Was du von mir willst, habe ich gefragt.
und macht alles sauber, setzt sich an den Frühstückstisch. Ihren Traum hat sie bereits vergessen.
–Willst du dir keine Hose anziehen?
Sie wird nie eine Oper schreiben. Ihr Bruder sitzt ihr gegenüber.
–Oder frühstücken wir jetzt alle immer in Unterwäsche.
–Alle?
Joseph glaubt an das Prinzip der Familie, an die Enge, die Tiefe, die Herzlichkeit und die Liebe. Nur der Rest seiner Familie, so scheint es, manchmal nicht.
–Warum sitzen wir denn zu zweit am Küchentisch, morgens, unter der Woche?
Wo sind sie denn?, fragt sich Chesley insgeheim.
–Ja, alle. Was in diesem speziellen Fall auch erst mal du und ich sein können.
–Ist ja gut.
–Und ich sitze hier nicht in Unterwäsche!
–Du trägst keine Unterwäsche?!
–Doch. Tue ich. Aber nicht ausschließlich. Freches Biest.
Joseph ist fröhlicher als gestern. Es ist heiß. Der Multivitaminsaft glüht im Süden. Joseph isst Sugarjacks aus einem Kochtopf, weil ihm sämtliche Keramikschüsseln zu klein sind.
–Da passt nicht mal ein Liter rein!
–Was hast du denn so gute Laune?
–Ich treffe mich mit einem Mädchen.
–Mit Nataly?
–Ach, halts Maul.
–Wer dann?
–Kennst du nicht.
–Sag.
–Meggy.
–Ist die nicht,
beginnt die vorlaute Schwester und will den Satz mit Abschaum, Schimmel, Blech beenden, doch da wird sie schon von Müsli und Milch an der Schulter getroffen.
–Keine Überfallfragen!
Der letzte wirklich schöne, ehrliche und zutiefst kindliche Moment in Chesleys Leben beginnt. Die große Essensschlacht. Sie bindet sich einen roten Schal um, während ihr Bruder sich ein Suppensieb über den Kopf schnallt. Sie jagen sich durch das Haus, in den Keller, in die Speisekammer, ein gefrorenes Paket Butter, eher ein Ziegelstein aus Fett, trifft Joseph an der Schläfe und es erklingt ein Läuten, wie das französischer Schulglocken. Mit letzter Kraft zieht er sich zurück, studiert die Taktiken Shermans, Pattons und die des Cheruskerfürsten Arminius, gräbt eine Grube im Flur aus, füllt diese mit Reis und Nudeln, legt einen Teppich darüber und wartet. Chesley will ihn mit einem Donnerschlagangriff überraschen, fällt aber tatsächlich in die hinterhältige Falle.
–Ha!
Joseph triumphiert, lacht, tanzt den Tanz des Gewinners und gibt seiner Schwester einen Kuss auf die Stirn. Sie verlässt das Haus im Zeichen der Unordnung. Joseph hingegen schwänzt nach diesem anstrengenden Morgen lieber die Schule und schießt mit dem Gewehr seines Vaters auf leere Bohnendosen. Josephs roter Roller wurde nach Lennys Unfall verkauft. Die Gleichheit unter den Menschen nimmt ab.
Mirandas Bauch wird gerne gestreichelt. Denn er ist zart und zarte Dinge lieben das Zarte. Zarte Dinge sind in diesem Punkt sehr eigen. Nataly weiß gut damit umzugehen, denn sie ist eine Liebhaberin. Und das Liebhaben ist das Schönste in der Welt. Miranda geht schon lange nicht mehr auf die High & Low High School, sie hilft bloß manchmal bei der Skifreizeit als Betreuerin aus, weil sie sich so gut mit dem Sportlehrer versteht. Miranda hat eine eigene Wohnung. Ein Zimmer. Mit kleiner Küche und kleinem Bad. Ein Bett, ein Schreibtisch. Essen. Manchmal in der Kühlbox, manchmal auf dem Herd. Ihre Kleider hängen an Haken an den Wänden, weil sie keinen Platz für einen Schrank hat. Nataly war viel dort in den letzten vier Monaten. Sie ist reif für ihr Alter, denkt Miranda. Manchmal sitzt sie einfach in einer Ecke und sinniert. So erschleicht sich die in echt gar nicht sinnierende, sondern wartende Mauseschlange den Respekt der Älteren. Oder sie liest ein Buch über Dinosaurier. In der Hauptsache will sie in ihrer Nähe sein. Mehr nicht. Sie verlangt nichts, wenn sie nicht wirklich etwas haben will. Und Tee macht sie selbst, auch den Abwasch und das Aufräumen. Abends gehen sie gemeinsam in die Bar, in der Miranda arbeitet. Die Bar Scene From Star Wars Bar im Industriegebiet. Dort tragen die Kellnerinnen keine Oberteile, verdienen aber recht gut. Nataly wird gefragt, ob sie denn schon 21 sei, und hat die Frage wohl falsch verstanden, denn sie antwortet mit
–Ja.
Nach ihrer Schicht geht sie zu Miranda in die Garderobe, welche gerade nach Fünf-Dollar-Noten in ihrer Unterwäsche sucht und legt ihr den Kopf auf den Schoß. Sie flüstert
–Miranda. Du kennst doch Bobby?
Es kitzelt ein wenig.
–Ja, warum?
–Ich muss ihn sprechen, beziehungsweise nicht ich, sondern Meggy, du kennst sie.
–Ich glaube, ich weiß, wen du meinst.
–Gut.
–Aber hast du nicht erzählt, dass du sie nicht ausstehen kannst.
–Ja, und deshalb, um endlich Ruhe zu haben, muss ich sie mit Bobby zusammenbringen, oder mit irgendjemandem, der ihr beim Detektivspielen hilft.
–Hm.
–Also?
–Nagut.
–Bist du mir böse?
–Nein.
–Manchmal vergesse ich nur, wie jung du bist. Kannst du mir bitte die Jeans geben?
An diesem Abend schlafen Miranda und Nataly das erste Mal miteinander.
–Wie du dagestanden bist und getanzt hast, das hat mich einfach –
Zwei Körper in einem Raum, die sich zärtlich dummficken. Ein Knie schnellt in einen Oberschenkel, trennt Muskeln von Knochen, Miranda, die Geflügelschere. Das Zittern der Zungen, die zirkulieren im Schlamm, so lang bis sich der Kiefer auskugelt, bis zur völligen Lähmung aller Gesichtsmuskeln. Die Eine will der Anderen beweisen, wie alt sie sein kann, die Andere sich selbst, dass sie ein berechnendes Arschloch ist.
Chesley trägt gerne Armbänder und hat Haare, die ihr bis zu den Schultern gehen. Sie trägt gerne weite kurze Hosen, dessen Enden sie hochkrempelt. Sie trägt gerne eine Lupe in ihrer Tasche, weil sie alles mag, was zu groß ist. Die Maserungen von Holz. Die Kerben der Fingerspitzen. Sie ist vernarrt in Details. Oder wenn sich der Teebeutel im Früchtetee dreht, wie von selbst. Sie spürt, wie sich die Türen hinter ihr schließen und ihr die Sonne aus dem Nacken weicht. Aus Susie, Susie und Susann treten Wörter und Sätze aus, niedlich zusammenhangslos, doch das ist nichts, woran sich Chesley stören würde. Sie hört gerne zu und gerne weg. Sie findet, dass Reden eine der tollsten Eigenschaften des Körpers ist. Und für einen Moment denkt sie, dass sie wie tot ist, und einige mehrere Momente später ist sie dann wie tot, nur nicht wie.
Themen, die Bobby interessieren: die Einheit Europas, das Einwirken der Zeit auf Skelette, der bestirnte Himmel über ihm, Kerker und Drachen. Er erinnert sich daran, wie er mit seinem Vater (einem traurigen schwedischen Mann) im Theater war. Es war kurz nach dem Tod seiner Mutter (einer glücklichen schwedischen Frau). Sein Vater sitzt neben ihm. Er hat die staubweißen Haare nach hinten gekämmt und trägt einen Anorak mit passendem Hemd. Seine Stirn ist maßlos und er schaut nicht auf die Bühne, sondern ins Nichts. Gerade ist eine Schauspielerin oder ein Schauspieler in einem japanischen Kostüm aufgetreten. Er, eher sie vielleicht, trägt einen Kimono und eine Maske, außerdem in der rechten Hand einen Fächer. Die Maske ist fröhlich und die Augen ganz dünn. Die Brauen abrasiert und kurz unter dem Haaransatz zurückgemalt. Diese Gestalt wird von hinten beleuchtet, sodass das Gesicht von Bobby angestrahlt wird. Er starrt auf die Bühne. Sein Mund steht offen und er spürt seine Arme nicht mehr. Seine Beine sowieso nicht. Niemals hat er Derartiges gesehen. Die Schönheit und die Grazie, alles Unmenschliche, was die Maske ausstrahlte, war von wahrhafter Verlogenheit. Noch in derselben Nacht verfasst er einen Brief an seinen Vater. Er legt ihn auf den Küchentisch, der aus Nussbaumholz ist. Von nun an und für alle Zeit werde ich nicht mehr lügen. Er reist sofort ab, um auf einem Frachtschiff anzuheuern. Er schält Kartoffeln, starrt aus der Kajüte, denkt an ungarische Musikethnologen und überquert den Atlantik. Weil er, so er denn will, sehr jung aussieht, behauptet er fest auf dem nordamerikanischen Festland, dass er sehr jung ist. Man schickt ihn auf die nächstliegende High School, wo er nach einigen Jahren einen Abschluss macht. Doch findet er nicht, dass es eine schöne und richtige Zeit war, oder weiß nicht, was er sucht, aber weiß, dass er es nicht gefunden hat. Also fälscht er sich einen Ausweis und geht auf eine andere High School. Dort verliebt er sich in ein junges Mädchen, welches im Kindbett stirbt. Auf der nächsten High School verliebt er sich in ein Mädchen, welches an Hysterie erkrankt, und so wechselt er erneut die Schule, wobei seine Rasiertechniken stetig ausgefeilter werden, was bei blondem Haar allerdings nicht die größte Herausforderung ist. Traurig und entsetzlich traurig, denn kaum verliebt er sich in ein Mädchen, so fallen es europäische Krankheiten an, besucht er zuletzt die High & Low High School. Sein Körper ist bereits so erwachsen, dass er in jeder Pause heimlich auf die Toilette gehen muss, um sich zu verjüngen. Er arbeitet unentwegt an der Maske seines Gesichts, was ihn an das Theater erinnert und freudig stimmt. Damals. Wann war das gewesen? Er weiß es nicht mehr. Aber selbst das Vergessen stimmt ihn freudig. Er verliebt sich in einen Jungen, sie küssen sich und dieser zieht in eine ferne Stadt an der Westküste. Sonst passiert dem Jungen nichts. Der Bann ist, wie es scheint, gebrochen, und so gewöhnt er sich bald daran, junge Männer zu lieben, jene, welche sich nicht rasieren müssen oder kleine rote Pickel auf ihrer Stirn haben. Nachdem er seinen Abschluss gemacht hat, tut er etwas Kindisches. Er bleibt im Gebäude der Schule wohnen und richtet sich ein Überwachungsarchiv ein. Er verfolgt das Treiben auf den Gängen und das Treiben in den Klassenzimmern. Er protokolliert jede Bewegung, jedes High Five und jeden Schlag auf die Hüften. Er hat sich eine Kammer in den Keller gebaut, eine Bibliothek, in der er die verschiedenen Lebensweisen der Lebewesen vergleicht, um der Weltformel auf den Grund zu kommen. Es ist sein Wunsch, den kleinsten gemeinsamen Nenner der menschlichen Rasse zu errechnen. Um sich dieses Projekt zu finanzieren, arbeitet er als Matrose in einem Diner. Wenige erinnern sich an ihn, er war unscheinbar, ein Phantom. Doch Miranda kann sich sehr wohl erinnern. Bobby (eigentlich Börje) ist glücklich. Sein Vater hingegen schreibt Gedichte in den schwedischen Schnee, die etwa den Titel Schvermuth tragen, und vermisst seine Familie.
Lenny in seinem Zimmer. Er beobachtet die Fenster. Nicht das Draußen, nicht das Drinnen, das Dazwischen. Er geht in die Küche und öffnet den Kühlschrank. Lenny hat elf ungekochte Eier in seinem Kühlschrank. Er nimmt drei, lässt zwei auf den Kachelboden fallen und brät sich eins in der Pfanne. Wie viele Eier sind noch in dem Kühlschrank? Elf? Acht? Sechs? Lenny schneidet Frühlingszwiebeln in Scheiben und will wissen, wann es Sommerzwiebeln gibt. Lenny isst rohe Pilze und bekommt Bauchweh. Er lässt sich ein Bad ein, fein mit Kerzen und Hasch, masturbiert und steckt sich ein Stück Seife in den Anus. Die Befürchtung schleicht sich ein, dass er es nicht mehr herausbekommt. Es brennt, er kommt, er beruhigt sich und streckt die Beine so weit es geht auseinander, um bestmöglich an seinem Ausgang operieren zu können. Schließlich hat er es und zieht es raus. Und es ist weiß wie immer. Es riecht nach Zedern. Gründlich wäscht er es ab und legt es zurück in die Kerbe, die für Seife im Badewannenrand vorgesehen ist.
Meggy trifft sich mit der gewissen Miranda vor der Kirche. Es ist ein heißer Vormittag, wahrscheinlich der heißeste des Jahres. Munkeleien zufolge soll die Pastorin unter der Hand, ohne das Wissen der Geschäftsführung des Darkmart, Speiseeis in Waffeln verkaufen. Tatsächlich ist unter dem Kirchturm eine Schlange von Ungläubigen, so glaubt Meggy die Menschen am ehesten zu deuten, die hinter vorgehaltener Hand an etwas schlecken. Sie drängelt sich an den Wartenden vorbei.
–Pistazie!
Die junge Frau hinter ihr erkennt sie anhand der Beschreibung, die ihr ihre Freundin von Meggy gab. Sie hält sie an der Schulter fest.
–Pistazie ist alle.
–Wirklich?
–Aber du kannst meines haben.
Schließlich setzen sich Meggy und Miranda in einen Beichtstuhl. Man hört, wie jemand auf einer Orgel Orgel spielt, und wie das Sprechen der Menschen eher ein Flüstern ist, wie alles hallt und schallt. Sie verstehen sich kaum, so miserabel ist die Akustik. Doch bald schon fällt der Name Bobby.
–Wo man ihn finden kann, das ist in einem Archiv. Und zwar im Keller der High School.
Sofort macht sich Meggy auf den Weg zur Schule und auch Miranda entkommt nur knapp der Razzia der Darkmart-Sicherheitskräfte, welche dafür sorgen, dass die Kirche vorerst geschlossen bleiben muss.
Im Zimmer der Direktorin läuft Radiomusik in einer Lautstärke, die einen wundern lässt, ob die Rektorin schlicht ausgesprochen gute Ohren hat, oder Radios nicht ausstehen kann, Stille aber noch weniger. Sie wendet sich an die restbedämmerte Meggy.
–Was hattest du im Keller zu suchen?
und ohne wirklich zu verstehen, was man gerade von ihr will, kontert sie
–Was hatten Sie im Keller zu suchen? Oder ich meine, wie komme ich überhaupt hierher?
Die Unterhaltung endet damit, dass Meggy endlich einwilligt, bei der Schülerzeitung als Sportredakteurin mitzuwirken, außerdem als Karikaturistin, mindestens drei Panels pro Monat. Nur so schnell wie es geht raus und zurück in den Keller, Bobby finden, Ohnmachtsanfälle vermeiden. Aber wo vor ein paar Stunden noch eine Kellertür war, da ist nun eine Menschenmenge.
Chesley blickt ihrem Peiniger in die Augen. Es sind kleine Augen. Chesley. Was für ein Name. Ein Name wie ein Rätsel, wie eine gute Schachpartie oder eine Polarexpedition zu den geheimnisvollsten Ölvorkommen dieser Erde. Sie sieht Hammer und Faden in seiner Hand. Sie will davonlaufen, sie will sich befreien, sie will alles ablegen, den Himmel sehen, ein letztes Mal die eigene Gänze spüren, die Helikopter, die blaugoldnen Gerinnsel, sie will springen und nicht loslassen, sich selbst reißen, die Luft verletzen, sie will glühen, zu einem Stück Grillkohle werden, Lava berühren, liegen, träumen und lieben, doch da knallt das Eisen und die Schädeldecke leckt.
An der Kellertür hängt der Aushang des Debattierklubs. Die Auflistung der Bestdebattierenden. Nataly ist nicht dabei, dafür Chesley auf Platz Zwei und Benjamin auf Platz Eins. Posthum. Tatsächlich beides posthum, wie sich herausstellen wird. Der Schrei des Bademeisters geht durch das Mark der Schule. Etwas so Furchtbares hatte er noch nie gesehen. Ein blutjunges Mädchen, gerade so alt wie seine eigene Tochter, hatte aufgehört jung zu sein und war bloß noch Blut. Feinsäuberlich eingeflochten in den Zaun des Außenbeckens, welches in der kommenden Woche hätte eröffnet werden sollen, jetzt, da die Tage schöner werden. Die Polizei kommt und sperrt alles ab. Sie sichern den Tatort und haben recht schnell ein recht schlechtes Gewissen ob des Paares aus dem Wald mit der Hütte, welches erst vor kurzem hingerichtet wurde. Denn eindeutig ist, dass es sich hier um denselben Mörder handelt, der auch den Jungen um sein Leben betrog. Das schlechte Gewissen paart sich mit der Angst vor einer Gerichtsverhandlung und der daraus resultierenden eigenen Hinrichtung (ob fälschlicher Hinrichtung) und der Großteil des Polizeiapparats flieht noch in derselben Nacht nach Altengland. Dort eröffnen sie eine Whisky-Brauerei mit feinster Highland-Gerste und exportieren später recht erfolgreich einen Scotch namens Widowed Bride.
Als Joseph davon erfährt, dass seine Schwester roh entmenscht wurde, nimmt er sich die Flinte seines Vaters und geht zu Lenny. Er zielt auf seinen Kopf.
–Wir gründen eine Band. Wir werden ein Album aufnehmen. Gitarre, Gitarre, Perkussion und sonst nichts. Hast du verstanden? Vor allem keinen Gesang. Keiner wird singen. Und wir probieren jetzt sofort dieses Heroin aus, von dem alle immer schwärmen.
Sie nennen sich La Deutsche Vita, was ihrer Meinung nach eine eindeutige Anspielung auf die Zeit zwischen dem 7. Mai 1945 und dem 11. April 1961 in der Bundesrepublik Deutschland ist. Die Zeit vor dem Eichmann-Prozess, die heimlich unbeschwerte Zeit, in der das dortige Volk noch dachte, irgendwie nicht das vielleicht schlimmste Verbrechen des 20. Jahrhunderts verübt zu haben, in einer Anteilnahms- oder Wegguckmitschuld. Alle 45 der 61-sekündigen Stücke von La Deutsche Vita werden wegen des Quandtgefühls in einem geräumigen BMW aufgenommen. Unmittelbar danach sind beide entgrenzt reich und können sich nicht nur Heroin leisten, sondern jede Menge Bücher. Sie entwickeln ein großes Interesse für die Geschichte der indigenen Völker und investieren Unmassen an Kapital aller Arten in die Übersetzungen von Literatur, welche in eskimo-aleutischer Sprache verfasst ist. Jahre später wird sich Joseph eine Sonnenbrille aufsetzen und murmelnd durch einen Garten laufen. Er wird ein Gewehr in der einen und ein dünnes Messer in der anderen Hand haben. Er wird so lange laufen, wie er Kraft hat, denn der Garten wird gigantisch sein. Um Joseph wird alles grüner werden und stärker, er selbst aber wird seine Kräfte verlieren. Er wird zu Boden sinken, seine Jeans werden Grasflecken an den Knien haben und sein Pullover wird am Kragen eingerissen sein. Da wird Joseph erschöpft sein und in seiner Erschöpfung wird sich ein Quell vor ihm auftun und er wird auf der Wasseroberfläche anstatt seines eigenen Gesichts das Gesicht seiner Schwester gespiegelt sehen. Er wird mit dem Messer in den Quell stechen und das Grün wird zu einem Braun werden und das Braun zu einem Grau. Er wird daliegen, Jahre später, und das blanke Ende der Flinte wird seinen Gaumen kitzeln. Er wird würgen müssen und Speichel läuft hinab am Lauf, wie taufahler Honig. Und er wird den Daumen umständlich verbiegen müssen, um endlich abzudrücken.
Aufgrund des Mangels an Exekutive und der Brisanz des Falls wird ein Komitee vom Föderalen Büro für Investigation gegründet, welches sich im ex-friedlichsten Städtchen Neuenglands einnistet. Agenten. Sie mieten die beiden oberen Etagen des L'Otel Chacal und verteilen Tafeln, Pinnwände, Abhörgeräte, alte Möbel und schwedische Aschenbecher in den Räumlichkeiten und platzieren sich gekonnt vor und hinter und über und unter ihnen. Es sind ebenso einige technizistische Hingucker unter den Einrichtungsgegenständen. Geleitet wird das Sondereinsatzkommando von einem Mann namens Donna Jones. Donna hatte die Zeit von 1993 bis 1994 sehr genossen. Er zog von Staten Island nach Washington, D.C., und machte Karriere als Kriminalist, außerdem hatte Wu Tang die 36 Chambers veröffentlicht, Black Moon Enta Da Stage, die Souls of Mischief 93 'til Infinity und Nas Illmatic. Donna fühlte sich in seinem Innersten bestätigt und gewann an Selbstbewusstsein. Die Musik erinnerte ihn an die Zeit, als er gedemütigt wurde, wie ihm ein Skateboardfahrer ins Gesicht gespuckt hatte und wie er fast sein Leben verlor auf einer Straßenkreuzung. Wie er am Ufer saß und Bier aus einer braunen Papiertüte trank. Wie er seinen Sohn vor dem Basketballkorb erniedrigte, eines Nachts, und wie sein Sohn verschwand, eines Nachts, gemeinsam mit seiner Mutter. Langsam kam das Gefühl der Einsamkeit zurück und der Verdacht, nie im Leben das Richtige getan zu haben. Weshalb er das Falsche ausprobieren wollte und herausfinden, ob das das Richtige sei. So begann er seine Karriere bei der Polizei und es war verblüffend, wie einfach alles war. Wie leicht man befördert werden konnte und wie er nach D.C. zog, damals, im Frühling 1993, und wie er dann, zwei Jahre später, seinen Weg in dieses kleine Städtchen fand. Vom L'Otel Chacal überblickt man alles. Donna steht am Fenster, raucht selbstgedrehte Zigarren und wartet.
Zur Erhebung der Stimmung an der High & Low High School, die nun einen Doppelmord zum Schüler hat, soll Nataly, als Beste des Skikurses, in der Aula der Schule vormachen, wie sie einen guten Schwung am Hang anlegt. Es ist sowohl eine Ehre als auch eine Gefahr, denn sollte sie sich blamieren, so wird sie als Geächtete dastehen. Wölfe werden ihr die Knochen aus den Armen beißen. Meggy, als Sportreporterin der unabhängigen Schülerzeitung Hatred, ist selbstverständlich vor Ort. Nataly steht in der Mitte der Bühne, ein Suchscheinwerfer ist auf sie gerichtet. Und die Blicke. Die Augen blecken. Stille. Das Knacken des Holzes. Schweißtropfen fallen von Augenbrauen auf Schultern. Nataly im Schneeanzug. Auch Miranda ist gekommen, sie wartet hinter der Bühne auf ihre Geliebte. Sie trägt Blumen bei sich. Ihr Blutkreislauf gefriert für 31 Sekunden, sie erleidet beinahe einen Hirnschlag, so aufgeregt ist sie. Nataly blickt nach links, schwingt ihre Hacken nach rechts, ihre Hüften sind momentan schwungvoll, geschmeidig und verlockend. Ein Raunen geht durch den Raum. Meggy kritzelt wie wild auf ihren Block ein, der Hut steht ihr gut. Sie hofft darauf, Nataly nach der Vorführung zu erwischen, ihr ein paar Originalzitate abzujagen. Waren sie nicht Freunde? Teilten sie nicht ein Geheimnis und einen Schmerz? Hatten sie nicht beide einen Ringfinger verloren und küssten sich ihre Narben nicht? Hatte die Berührung jemals stattgefunden, hatte sie jemals aufgehört? Klatschen. Jubeln. Schreie. Alle sind begeistert. Nataly geht von der Bühne. Miranda nimmt sie in ihre Unterarme. Sie schließt sie in ihre Gliedmaßen ein, wie die Fahrgästin einer Achterbahn. Die verliebten Mädchen verweilen in der Einzimmerwohnung. Miranda steckt erst ein, dann zwei, dann drei Pizzabaguettes in den Ofen und Nataly lässt klitschheißen Atem aus ihrer Nase fahren. Meggy wartet vor den Umkleideräumen. Niemand kommt.
–Bist du da?
–Nein.
Niemand ist da. Meggys Kritik ist vernichtend. Sie bemängelt Technik und Herz, Beleuchtung und Ausstattung, Ausdruck und Hüften. Der Chefeditor der Zeitung (ein namenloser Roboter) beklagt, dass der Artikel falsch sei, und weist dies empirisch nach. Meggy legt sich mit dem Chefeditor an und überzeugt ihn, dass Pressefreiheit etwas Gutes und Unantastbares ist. Der Artikel erscheint unverändert und verändert die Wahrnehmung des Vergangenen. Keiner mochte den Auftritt. Einige der Schüler starten eine Protestaktion gegen ihre Erinnerungen und treffen sich in der Aula. Sie klatschen rückwärts, um ihre Schande zu bekämpfen. Für den Rest der High School-Zeit werden Nataly und Meggy kein Wort mehr miteinander reden, auch, weil sie nun in verschiedenen Kreisen verkehren und Nataly Meggy nicht mehr ansprechen darf. Die Einzige, die weiterhin zu Nataly hält, ist Miranda. Sie liegen beieinander, um sie leere Pizzabaguettekartons. Sie bereuen, der gemeinen Journalistin die Kontaktdaten von Bobby gegeben zu haben, woraus sie anscheinend nichts gemacht hat, denn der Vollstricker lebt weiterhin auf freiem Fuß. Aber gute Dinge sind nur dann gut, wenn sie nicht belohnt werden, und jetzt, wo sie das denken, belohnen sie sich selber und damit war es nicht einmal gut, was sie getan haben, sondern schlicht schlecht und dumm.
Wenn ein Mann gerne Penisse berührt, dann führt er entweder einen kruden Job leidenschaftlich aus oder ist unherkömmlich sexuell ausgerichtet, sprich: herrkömmlich. Meggy findet das Versteck vom König des Knabenlands. Sie klopft an die Tür. Er öffnet. Sie erkennen sich nicht sofort wieder. Dann doch.
–Man hat mir gesagt, dass ich dich hier finden würde, aber ich hätte nicht gedacht, dass du so aussiehst, wie du aussiehst. Beziehungsweise, dass du der Matrosenkellner des Diners bist.
–Und ich hätte nicht gedacht, dass mich jemand aufspürt, der seine Fries am liebsten ohne Ketchup isst.
–Darf ich hereinkommen? Ich habe ein paar Fragen.
–Auf keinen Fall.
–Nagut.
–Wir treffen uns in 37 Stunden auf dem Parkplatz.
–Welchem?
–Vor dem Außenbecken natürlich.
Natürlich.
Meggys Mutter gefällt es gar nicht, in welche Richtung sich ihre Tochter entwickelt hat. Was ist aus ihr geworden? Seit sie beim Hatred arbeitet, erlaubt sie es ihr nicht mehr, sich in das Kinderbett zu legen. Sie beißt in die Hände, die sie greifen wollen. Die langen Tage werden wärmer. Insekten kriechen aus ihrem Schlaf, aus ihren Eiern, Gehäusen und Kokons. Sie bedecken das Ende dieses ewigen Frühlings mit einer Haut aus dünnem Ekel. Meggy soll die Wäsche aufhängen, doch sie tut es nicht, und als Meggys Mutter heimkommt, ist das Waschzimmer zu einer Kolonie aus langen Beinen und Fühlern geworden. Sie fasst es nicht und sich ein Herz und wirft ihre Tochter hinaus auf die Straße. Diese geht zum Busbahnhof, um sich eine Fahrkarte nach Kalifornien zu kaufen, doch der Busfahrkartenverkäufer will ihr keine Busfahrkarte verkaufen, weil sie nicht volljährig ist, also kauft sie sich einen Sechserträger Samuel Adams und schlüpft in einen leerstehenden Hochsitz. Sie trinkt hektisch, zeichnet Karikaturen von Gott und fleht ihn an, ihre Mutter zu töten. Egal wie. Dem Ganzen ein Ende setzen. Gott lässt sich nicht darauf ein und verharrt in der Fötusstellung, da das Gottes Meinung zufolge die gemütlichste ist. Trotzdem behauptet Gott manchmal, dass Gott am liebsten auf dem Rücken schläft. Als Meggy aufwacht, starrt sie ein Mann mit blondgefärbten Haaren an, den sie noch nie gesehen hat. Er sei neu in der Stadt und arbeite für die Regierung, erzählt er.
–Für die Regierung? Für welche jetzt?
–Diese eine.
–Ach die.
Sie berichtet von ihrem Beruf als unabhängige Reporterin, dass sie diesen aber hasst und tatsächlich lieber an ihrem Hobby arbeitet, nämlich eine verdeckte Ermittlerin im Fall Vollstricker zu sein.
–Vollstricker?
–So nennen die hiesigen Medien den Mörder.
–Makaber.
–Aber keine Zeit!
Keine Zeit hat sie, eine Verabredung hätte sie, aber keine Zeit.
Donna kann nachts nicht schlafen, also raucht er entweder Opium oder nachtwandelt. Da aber Opiumrauchen seit irgendwann Beginn des 20. Jahrhunderts verboten ist und es ihm noch dazu nicht bekömmlich, nachtwandelt er. Dann wird er kurz müde und schläft in 40 bis 75 Minuten seinen Tagesbedarf runter. Gestern hat es ihn auf die Randstraße gezogen, in die Vierte Welt, auf den sechsten Kontinent, in den Forst. Unter einem großen Wellblechbaum sitzt ein Dachs in Lumpen, der Stumpen raucht.
–Wie heißt du?
fragt Donna und es blitzt.
–Das verrate ich dir nicht.
sagt Plitz und es donnert.
–Außer du drehst mir eine Zigarre.
Donna lässt sich auf den Handel ein und erfährt vom Dachsen Plitz, dass er der Dachs Plitz ist. Weiter fragt er ihn
–Was ist der Unterschied zwischen Tag und Nacht, weiser Dachs Plitz.
–Nachts sehen wir das Licht des Universums und am Tag das Licht der Sonne.
–Und die Sonne? Ist sie nicht Teil des Universums?
–Ist denn die Insel Teil des Ozeans?
Verblüfft und überrumpelt macht sich Donna weiter auf in die Tiefen des Forstes und erblickt einen Hochsitz. Er geht auf ihn zu und findet darin ein schlafendes Mädchen mit einem asymmetrischen Gesicht. Er starrt sie an und versucht teilzunehmen an ihren Träumen, doch es gelingt ihm nicht. Gerade als es hell wird, als sich die Wärme auf die Felder und Kleinhaushälften zu legen beginnt wie frisches Bienenwachs, da schläft Donna 89 Minuten. Als er aufwacht, kommt die Asymmetrische neben ihm zur Besinnung. Sie unterhalten sich ein Weilchen, aber dann muss sie plötzlich gehen. Donna kehrt zurück ins L'Otel Chacal und zeichnet ein Bild von ihr auf die Karte ein. Dort, wo sie sich das erste Mal trafen. Er blickt über die Stadt. Er wundert sich. Keine Gardinen. Keine Blumen auf keinem Balkon. Nirgendwo. Nichts Zauberhaftes.
Bobby bei Tageslicht zu sehen ist überraschend. Seine Haut hat einen Teint und der strenge Schnäuzer passt ausgezeichnet zur Nassglatze. Alles ist grau und der Himmel beginnt zu nieseln, als wäre er erkältet. Meggy fragt ihn zu dem Fall aus, sie verstehen sich gut. Beide belieben sie zu scherzen. Und Meggy erzählt ihm erst von Nataly und davon, wie sie sich die Nagelfeile in den Hals stach und davon, wie sie sich den Ringfinger abschnitt, doch Bobby sagt, dass er das alles bereits weiß. Also erzählt Meggy von Chesley und Joseph und dass man nichts mehr von Joseph hört und Bobby erzählt Meggy, dass Joseph mit Lenny ein Album mit dem Titel Heinrich Fun LP aufgenommen hat, welches aus 45 61-sekündigen Songs besteht. Meggy ist beeindruckt. Was er denn noch wisse, fragt sie, über den Vollstricker beispielsweise.
–Nicht viel. Ich denke, dass es sich um einen Mann oder eher ein Tier handelt. Wahrscheinlich um ein männliches Tier.
–Meinst du, es hat kein Gesicht? Joseph hatte angedeutet, dass er jemanden gesehen hätte, der kein richtiges Gesicht hat.
–Könnte gut sein.
–Vielleicht ein Vogel? Vögel haben keine Gesichter.
–Wir dürfen nicht vergessen, dass es sich um ein handwerklich äußerst aufwendiges Verbrechen handelt. Ein Vogel mit seinen Flügeln wird dazu schwerlich in der Lage sein.
Bobby und Meggy betrachten das Schwimmbecken, welches noch immer nicht zu Benutzung freigegeben ist. Wie die Tröpfchen auf der Wasseroberfläche Karos provozieren.
–Und weißt du etwas über diesen Gegenstand?
Sie zeigt ihm das Knäuel vom Tatort.
–Oder weißt du, ob es ein Pendant dazu gibt, vom zweiten Mord?
Bobbys Gesichtsausdruck verdunkelt sich.
–Es gibt zwei Menschen, die sich momentan in der High & Low High School befinden, die gar nicht mögen werden, dass du hast, was du hast.
Meggys Poncho ist durchnässt. Ihre Wollmütze.
–Es ist spät, wenn du mich entschuldigen würdest.
Sie steht allein da. Als hätte sie keinen Regenschirm.
Emily entschuldigt sich bei Herrn Cello. Sie konnte die Hausaufgaben nicht machen, sie war gestern einfach zu einsam. Herr Cello glaubt ihr. Was sie aber in echt tat, war im Bett liegen und wieder und wieder die beiden Schallplatten von der Band La Deutsche Vita hören. Tag, Nacht, Tag und Nacht. Sie ist die Vorsitzende ihres Fanclubs. Sie kennt die Band schon länger als alle anderen. Sie besitzt sogar die Sean Connery EP. Ihr gefällt, dass niemand singt, dass sie eine reine Oberfläche produzieren, perfekte Schleifen. Hört sie die Musik, die Wiederholungen, kommt es ihr vor, als würde ein Gärtner in ihr Leben treten, der sie von allem faulen Blattwerk befreit. Der das Unkraut ihres Körpers jätet. Ihre Haut vor Schnecken schützt und von Läusen befreit. Im Badezimmer, welches die beste Akustik ihres Elternhauses hat, überspielt sie die Alben von Platte auf Kassette. So kann sie sie auch unterwegs hören, immer in mindestens einem Ohrloch, und selbst als sie Herrn Cello belügt, vorne am Lehrerpult, lauscht sie in die Unendlichkeit des Loops. Joseph und Lenny sind die ersten Berühmtheiten der Stadt. Niemand kannte ihren Namen, doch nun verbreitet sich die Kunde vom Geburtsort der beiden Musiker über die Feldwege der Nation: Beetaville. Beetaville. Beetaville, Neuengland, Heimat der vielversprechendsten Nachwuchsmusiker n. Cbn. Emily jedenfalls findet, dass sie es sind. Plötzlich hat sie ein reges Interesse am Deutschunterricht und interessiert sich vermehrt für Kriegsverbrechen. Obwohl ihre Eltern es ihr verboten haben, hat sie sich das Brandenburger Tor auf die Fingerknöchel tätowiert. Ungeachtet dessen, dass es sechs Säulen hat und die menschliche Hand nur vier. Ihre Freunde versichern ihr aber, dass es total gut aussehe, und das ist vielleicht das Wichtigste. Sie kennt Joseph sogar noch von früher, als er bei ihr und ihrer Schwester im Zimmer war und auf dem Bett lag, was Emily im Nachhinein ein wenig unangenehm ist, auch weil sie auf ihn mit einem Filzstift eingestochen hatte, aber das muss ja nicht jeder wissen. Das Versagen der Schwester in der Schulaula beim Skispiel hatte einen Keil zwischen die Geschwister getrieben. Emily war noch jung. Sie musste noch mindestens vier Jahre auf die Schule gehen, sie konnte es sich nicht erlauben, loyal zu sein.
Zunächst befragt Agent Donna die drei Jungen, die die Leiche von Benjamin am Zaun gefunden hatten. Er erfährt von ihnen nicht viel mehr, als was bereits Stand der Dinge ist. Sie sind in den Wald gegangen, um zu rauchen. Sie waren damals acht, neun und zehn, jetzt sind sie neun, neun und elf. Sie sollen sich so genau wie möglich erinnern.
–Die Bilder dieses milden Herbstnachmittags hatten sich in unser Gedächtnis vorgearbeitet, wie die Pfade der Termiten. Auch wenn die Erinnerungen ein wenig auseinandergehen, aber wir können hier ja nur als eine Person, nur als die drei Jungen berichten, so behauptet Ben bis heute, dass John ihn geküsst und John beschwört, er hätte Ben bloß die Zigarette angezündet, und als dieser dann husten musste, wollte er den Reiz lediglich aus seinem Hals heraussaugen, und Paul beschwört, er hätte Stiefel getragen, mit Absätzen, länger als eine ausgewachsene Blindschleiche. Später wusste niemand mehr gar nichts. Wir sind die Eselsohren eines Geschichtsbuchs. Keiner weiß etwas von ihnen, doch es gab einen Moment, da hat man sie gebraucht, um schnell an eine bemerkenswerte Stelle zu kommen. Nun, Benjamin hing vor uns, er schien zu schweben, er schaute traurig aus, man konnte in seinem Blick sehen, dass es ihn verletzt hatte, nicht mehr Teil der Gegenwart zu sein, welche zugleich der jüngste wie der älteste Moment in der Zeit ist. Wir berührten seine Füße. Sanken in den Boden. Jammerten und wehklagten. Schließlich riefen wir die Polizei.
Donna fragt sie nach Auffälligkeiten, der genauen Uhrzeit.
–Es lag Fell um ihn, vielleicht zarte Federn, wie magnetisch aufgeladene Metallspäne. Sonst wissen wir über Benjamin bloß, dass er gut debattieren konnte, dass er ein Mann der Massen war, beliebt und schlau. Dass er eine bezaubernde Freundin hatte, namens, ach, wie hieß sie noch, diese mit den kleinen Brüsten und die so schlecht im, na, ach, in der Aula, nun, also, dass er komischerweise mit diesem Mädchen zusammen war. Dass seine Eltern, die MacNashs, erst vor ein paar Jahren hergezogen waren, irgendwo aus Minnesota.
–Moment mal. Fell? Das höre ich zum ersten Mal.
–Ob er vielleicht eine Katze gehabt hatte, Mister Donna? Nein.
–Oder ein anderes Haustier?
–Es wird wohl ein wilder Waldling um ihn herumgetollt sein, während seiner verhängten Strafe. Wofür man ihn hätte bestrafen können? Das wissen wir nicht. Wir sind noch so jung.
Nach dem Kreuzverhör zeigt Donna den dreien noch sein Bill Cosby-T-Shirt, doch das hatten sie noch nie gesehen und finden es endgeschmacklos. Das T-Shirt selbst entdeckten drei Mädchen und ihre Hündinnen in der Nähe von Phoenix und schickten es sofort an die Allgemeine Polizeistation Vereinigte Staaten von Amerika, welche es an Donna weiterleitete. Eine DNS-Untersuchung würde Näheres ergeben. Aber bisher konnte niemand etwas mit dem T-Shirt anfangen, auch die Eltern MacNash kannten es nicht. Aber was wissen Eltern schon über die T-Shirts ihrer Kinder.
Jeopardy! läuft. Die erschütterte Nataly fragt Miranda, ob sie schon von dem Massaker in Srebrenica gehört habe. Diese, ohne den Blick vom Fernseher zu lassen, antwortet, dass sie natürlich schon davon gehört hat. Miranda interessiert sich sehr für Kriege. Sie empfindet es als die Aufgabe einer bewussten Bürgerin dieses ihres Heimatlandes, welches seit fünfzig Jahren den Medaillenspiegel dieser Disziplin dominiert.
–Es herrscht Bürgerkrieg in Sri Lanka, in Somalia, in Sierra Leone, in Nepal, in Nordirland und Angola, es werden Sezessionskriege im Südsudan und der indonesischen Provinz Aceh ausgetragen, dazu der Kroatienkrieg, der Tschetschenienkrieg und schließlich der Unabhängigkeitskampf in Osttimor. Außerdem gibt es eine Masse von Flüchtlingen aus Ruanda, die in Zaïre sicherlich kein trautes Heim finden werden, sondern Rebellengruppen und Altdiktator Mobutu. Auf den Philippinen kämpfen islamistische Gruppierungen um die Macht, der sogenannte Moro-Konflikt, also alles was sich momentan in Mindanao und dem Sulu-Archipel abspielt. Dazu die kommunistischen Revolutionskämpfe im Land. Außerdem der paramilitärische Drogenwahnwitz in Kolumbien. Der Papuakonflikt in West-Neuguinea, die Kämpfe zwischen den Kukis und den Nagas in Nordwestindien, Joseph Konys Lord Resistance Army in Uganda. Und Myanmar. Die Zwietracht zwischen Türken und Kurden feiert gerade ihr zehnjähriges Jubiläum und die verschiedenen Mudschaheddin in Afghanistan führen strenggenommen auch einen Bürgerkrieg. Aber immerhin sind wir endlich über die Apartheid in Südafrika hinweg.
Miranda sagt das in einem Ton, in so einem Ton und Nataly wird eifersüchtig und stolz.
Sommerferien. Ganz kurz vor dem Herbst ist es und die Sonne schlägt auf ihre Menschen, als wären sie Mücken unterm Zeltdach. Emily hatte in ihrer Grundschuldzeit gelernt, dass man jeden Tag arbeiten muss. Denn ein Tag ohne Arbeit ist ein Tag ohne Sinn. Deshalb hat sie es sich zur Aufgabe gemacht, alle Zeitungsartikel und TV-Beiträge zu sammeln, die etwas mit ihrer Lieblingsband zu tun haben. Am meisten findet sich selbstverständlich in der New England Times, dort gefällt ihr vor allem der wohlwollende Ton, den die Journalisten anschlagen. Auch Radiointerviews transkribiert sie. Lenny spricht wenig. Auf Fotos sieht er aus wie eine Wunde des Materials, auf welches er gedruckt wird. Joseph redet davon, wie er die Zeit, in der er lebt, verachtet. Er hat das Gefühl, ein Leben zu leben, welches ungefähr so reißfest ist wie Aluminiumfolie. Er hat das Gefühl, in einem Frankensteinland zu leben, zusammengesetzt aus irgendwelchen Geschichten und Zuschreibungen, welches nur existieren kann, weil in einer verhängnisvollen Nacht ein Geldblitz hineinschlug. Er hat das Gefühl, dass in maximal fünf Jahren alles ein Ende haben wird. Dass Kurt Cobain das wusste und mit seinem Tod dem Zeitgeist final voraus war. Und diese Befürchtungen würden sich beweisen lassen, etwa durch die Entdeckungen der Quantenphysik, die in den späten Zwanzigerjahren in Kopenhagen gemacht wurden.
–Man müsste jetzt nicht erst Hugh Everetts Vier-Welten-Interpretation heranziehen, um –
–Aber was hat die denn –
–Es geht darum, dass man Fiktion wissenschaftlich belegen kann. Die Säulen einer Welt aus Verstand drohen einzustürzen. Worauf sollen wir uns verlassen, wenn uns alles verlassen hat?
Die Vorstellung, dass bald alles zu Ende sein würde mit der Zivilisation, findet Emily bestechend. Denn es fühlt sich schön an, die letzte der eigenen Spezies zu sein, und sie wird ganz bestimmt keine Kinder gebären. Um dies zu verdeutlichen und um Kurt Cobain als einzig wahren Kontrapheten anzuerkennen, gründet sie die Anachronistische Jugend Beetaville e.V. Fortan leben sie und einige ihrer Freunde ausschließlich in der Zeit vor dem 5. April 1994. Ihr Mantra ist einfach. Ein Zauberspruch, ein simples Morgengebet, ebenso trist wie ehrlich. I hate myself and want to die. Diese magische Formel, die den Kindern der Welt das Fliegen beibringt, ist ihr Leitfaden. Sie strotzen vor Eigenliebe und Selbsthass, ihre üblichen Treffpunkte sind das Diner, der Wald, das Feld, eingefallene Häuser und der Second Hand Shop, sowie der Schallplattenladen im Darkmart. Dort außerdem das Ungealterte Café, die Halfpipe, der Verzerrerladen und das Schiff. Sie trinken niemals Kaffee aus Pappbechern, machen dafür aber Kirschkernweitspucken und Lagerfeuer. Bei einer linearen Entfernungsbewegung der Jetztzeit vom 5. April 1994 wächst das Ausgeschlossensein der AJB exponentiell. Keines der Mitglieder geht mehr auf die Parties des Party Party Clubs, weil dort zeitgenössische Musik gespielt wird, sie gehen nicht mehr auf Ausstellungseröffnungen, da überall völlig neuartige Bilder herumhängen, und selbst die Konzerte von La Deutsche Vita kann niemand mehr besuchen. Der einzige Ort der Unterhaltung, an dem man die Mitglieder der AJB noch sieht, ist das Nationaltheater. Denn im Theater verwendet man beispielsweise das Wort mondän unironisch, während über das Schaffen und Werk von toten Männern geredet wird. Wer eine Regel bricht, wird aus der Jugend rausgebrochen. Paul vergreift sich im Regal und kauft ein Fläschchen Nagellackentferner, der neu auf den Markt gekommen ist. Erstens ist er besonders billig, und zweitens hat er den höchsten legal möglichen Acetongehalt. Er hofft, dass es niemandem auffällt und rauscht über den Spielplatz. Desaströs verschallert liegt er im Sandkasten. Emily findet ihn. Der Rest ist Wind.
Meggys Mutter hat das Exil ihrer Tochter aufgehoben und frische Erdbeeren aus Chile gekauft. Am Abendbrottisch wirkt Meggy verwirrt, geradezu absolut in ihrer Wirrnis. Sie spricht von einem Knäuel und einem Roboter, der Kritik an Liebe und von einem König, der in der Schule wohnt. Meggys Mutter will das Gespräch auf die Erdbeeren lenken, doch Meggy blockt ab. Sie behauptet
–Die Menschen sind unnütz geworden, ohne es zu merken. Kinder, totgereift zu Erwachsenen.
Meggys Mutter schweigt, nein, sie kichert.
Die DNS-Untersuchung des Bill Cosby-T-Shirts führt die Ermittler zu einem Mann namens Jeff Cello. Mister Jeff Cello. Er unterrichtet Physik und Mathematik an der High & Low High School. Er leidet unter manischer Amorie. Donna konfrontiert ihn in den Physikräumen.
–Mister Cello. Mister Jeff Cello!
ruft er.
–Wo waren Sie am Tage des ersten Mordes und wo waren Sie am Tage des zweiten?
–Bei meiner Verlobten.
antwortet Jeff.
–Wie erklären Sie sich dann, dass wir ihre DNS am T-Shirt von Benjamin MacNash gefunden haben?
–Ich kannte Benjamin MacNash nicht und ich kann es mir auch nicht erklären. Er war niemals mein Schüler. Und Chesley kannte ich auch nicht.
–Aha. Wie lautet der Name ihrer Verlobten?
–Tut das etwas zur Sache?
–Ja.
–Holly.
–Einfach Holly?
–Ja. Vor- und Nachname sind Holly.
Ihre Wohnung ist schön. Ursprünglich kommt Holly aus San Francisco und hasst es vor allem, wenn man sie darauf anspricht, ob sie denn aus Frisco käme.
–Die Stadt heißt San Francisco, okay? Sie heißt San Francisco. Ist das denn so schwer? San. Fran. Cisco. Verstanden?
Sie sagt ja auch nicht B-Ville oder Beeta-V. Hollys Wohnung ist stilvoll eingerichtet. Es ist eine Mischung aus der Wohnung einer Lehrerin aus San Francisco und der Wohnung einer Lehrerin aus einer nordostamerikanischen Kleinstadt. Insbesondere die Stehlampe im Wohnzimmer fällt den meisten Gästen positiv auf. Sie hat einfach einen idiosynkratischen Schwung.
–War Jeff Cello bei Ihnen?
–Ja.
–Lieben Sie ihn?
–Nein.
–Sollte man seinen Verlobten nicht lieben?
–Gegenfrage. Warum können wir Schönheit nur erhaschen, nicht erfassen?
–Das tut nichts zur Sache.
–Eben.
Meggy nimmt ein liniertes Blatt Papier und zeichnet das Universum. Dazu braucht sie lediglich neun Kugelschreiber hunderttausendmal im Kreis herumkreiseln zu lassen. Darüber schreibt sie Haben Sie diesen Gegenstand schon einmal gesehen? und drunter Bitte bei Meggy melden. Das Meggy ist mit einer welligen Linie unterstrichen. Bobby spekuliert, dass es sich bei dem Gegenstand höchstwahrscheinlich um einen Motor handelt. Und dass man mit diesem Motor höchstwahrscheinlich die Forschung an der Zeitmaschine wiederaufnehmen könne. Daraufhin gibt Meggy Bobby sofort eine Sci-Fi-Backpfeife und dieser zieht zurück, was er da sagte.
Am anderen Ende der Nacht arbeitet die AJB an einem Projekt mit dem Namen Flakon Möwe Hutfabrik, bei welchem es sich um die Programmierung einer maschinellen Religion handelt. Das Projekt schluckt jedoch alle Mitgliedsbeiträge und wird deshalb gewinnbringend an ein Pärchen aus dem mittleren Mittelstand verkauft. Die drei Gegenstände symbolisieren die Ecken der anachronistischen Vernunft. Eine flüchtige Dreifaltigkeit. Der Flakon als Beherrschen der Natur, die Möwe als Willkür der Evolution und die Hutfabrik als Uneigentlichkeit des Individuums.
Weil die MacNashs Löcher in ihren Manteltaschen haben, aus denen sie all ihre Zuneigung verlieren, die dann ungeöffnet auf der kalten Straße liegenbleibt, oder weil es nun auch schon öfter vorgekommen ist, dass sie alle Zuneigung an der Kasse des Feinkostgeschäfts im Darkmart vergessen haben, manchmal auch an der Käsetheke, beschließen sie, einen Hund zu kaufen. Dieser soll sich darum kümmern, dass keine Zuneigung verloren geht. Es ist ein großer Hund mit felligem Fell und augigen Augen, er unterscheidet sich in allen Belangen von anderen Hunden, und die MacNashs erkennen ihn immer wieder, wenn er neben fremden Tieren steht, läuft oder liegt. Sie sagen dann
–Ha! Das ist unser Hund.
Man brauche sich nur seine Form anzuschauen, schon weiß man, dass er es ist. Weil sie sich so gut mit ihm verstehen, einigen sie sich darauf, ihm einen Namen zu geben. Er heißt von nun an Nadja. Von Nadéschda, Hoffnung. Aber eben nicht Nadéschda, Hoffnung, sondern Nadja, Hoffnungchen. Weil sie so stolz auf ihren Nadja sind, bewerben sie sich bei einem Wettbewerb, bei dem der beste Hund der Stadt ermittelt werden soll. Die Bewerber müssen durch Parallelogramme springen, sich in Dreiecken verstecken und einen Kreis auf der Schnauze balancieren. Es gibt viele gute Tiere dort, aber keines ist so gut wie der Hund Nadja. Er gewinnt mit weitem Abstand zum Verfolgerfeld, wird erschossen, ausgestopft und an den Kleinstadteingang gehängt. Er hält eine Antrittsrede.
–Während Ausstopfen normalerweise Ehrung und Imitat, das Ersetzen und Verherrlichen des Lebens in einem ist, möchte ich dem Ausgestopftsein ein Sockel sein und das Imitat nachahmen.
Woraufhin sein mit Draht durchzogener, entknöchelter Schwanz beginnt, sich zu jeder dritten vollen Stunde um 360 Grad zu drehen. Die MacNashs bekommen eine eingeglaste Urkunde, auf der Aushängehund 1995 von Beetaville ist Ihr Hund steht und darunter handschriftlich mit einem Füllfederhalter Nadja, außerdem ein Foto in schmerzweiß, welches sie neben das von Benjamin stellen. Erst sind sie stolz, dann aber lassen sie wieder an den unmöglichsten Orten ihre Zuneigung liegen und kaufen sich schließlich eine Katze. Die Katze kümmert sich so gar nicht um die ihr zugeteilte Aufgabe, bekommt keinen Namen und dafür des Öfteren etwas mit einem Stock auf die Pfoten. Immer auf die Pfoten.
Jeff Cello entspannt sich auf der Couch, während Holly Nudeln macht. Sie hatten noch rote Zwiebeln im Kühlschrank und eine Aubergine, außerdem etwas Minze und Peperoni. Jeff Cello denkt nach. Er geht in die Küche. Er nimmt ein Messer aus der Messerschublade. Er würde jetzt gerne etwas aufschlitzen. Er schaut Holly an, sie summt ein altes jiddisches Lied, während die Nudeln im Wasser kochen. Noch oft muss sie an Kreplach denken. Hoffentlich hat sie nicht das jodierte Salz genommen.
–Was willst du denn mit dem Messer?
–Käse schneiden.
–Warum musst du mein Essen immer mit Käse verstümmeln?
–Hast du das jodierte Salz genommen?
–Wir hatten kein anderes Salz mehr.
–Warum nimmst du nicht gleich das Kräutersalz?
–Wenn es dir nicht passt, koch selbst.
–Ich koche andauernd für dich.
–Dann lad mich zum Essen ein!
–Wo warst du, als der Junge gestorben ist?
–Ich weiß es nicht.
–Du weißt es nicht?
–Ja, ich weiß es nicht. Ich weiß es nicht, ich weiß es nicht, ich weiß es eben nicht.
Holly nimmt die Pfanne kurz vom Herd und zündet sich eine Zigarette an der Gasflamme an. Und für einen Moment ist es das Lächeln Ted Bundys, was über ihren Lippen liegt.
–Lad mich zum Essen ein. Ich schlage vor, du lädst mich jetzt wirklich zum Essen ein.
–Lass uns mal über mich reden.
schlägt Lenny vor und Joseph stimmt zu. Sie sitzen in der 32. Etage eines Hotels einer japanischen Großstadt. Sie trinken Champagner mit Codein und essen Cracker mit Cheddar. Die Lebensmittel sind so teuer, sie haben keine Aufschrift und kein Etikett auf den Verpackungen. Nur das Codein fällt ein wenig raus in seiner Apothekenuniformität. Lenny erzählt von seinem Vater und davon, wie er immer gegen ihn im Schach verloren hat. Davon, wie er einmal mit ihm am Atlantik saß, und dass er da mit dem Gedanken gespielt hatte, seinen Vater ins Wasser zu schubsen. Joseph hört weg und erfindet ein neues Wort für Wasser, weil er das Wort Wasser nicht mag. Grieschlach. Lenny schaut ihn fragend an. Joseph schaut ihn antwortend zurück.
–Dann doch lieber Wasser.
Er erzählt weiter, er erzählt, wie der neurodermitische Junge von nebenan einmal seine Taschenlampe in den See geschmissen hat. Die Taschenlampe konnte in drei Farben leuchten. Er erzählt, wie er einmal einen Dollar gefunden und sich davon kein Eis gekauft hatte. Joseph will weghören, er langweilt sich zu Tränen, doch es gelingt ihm nicht. Er kann einfach nicht weghören. Jedes Wort saugt er in sich auf und er fühlt, wie um ihn ein Käfig aus dem Boden wächst. Da könnte man ja direkt eine monogame Beziehung führen, so gelangweilt ist er.
Donna Jones hat die sogenannte Balcerzak und Gabrish-Angst. Am frühen Morgen des 27. Mai 1991 gehen zwei Frauen über die Straße. Ihnen fällt ein nackter Junge auf, offensichtlich verwirrt. Noch dazu blutet er aus einigen Stellen seines Körpers. Bei diesem Jungen handelt es sich um den 14-jährigen Konerak Sinthasomphone. Sie rufen die Polizei. Ein Mann mit schrecklichen Augen kommt ihnen entgegen, er will den kleinen nackten Jungen zurückhaben, doch sie geben ihm ihn nicht. Nach einer kurzen Weile kommen die Polizeibeamten Balcerzak und Gabrish an. Sie befragen den Mann mit den schrecklichen Augen.
–Das ist mein 19-jähriger Freund und wir hatten einen Streit und jetzt möchte ich ihn wieder mit nach Hause nehmen. Er gehört mir.
–Und warum spricht er so wenig?
–Er ist betrunken.
–So. Verstehe.
Die beiden Frauen beschweren sich. Sie werden sogar wütend auf die Polizisten, das könne man doch nicht tun.
–Nein!
Doch, können tun sie es. Der Mann nimmt Konerak Sinthasomphone wieder zurück zu sich nach Hause, und den beiden Diensthabenden fällt nur ein wenig der Geruch im Appartement auf, sonst nichts. Also fahren sie zurück aufs Revier und trinken vielleicht einen Kaffee, vielleicht sind sie auch sofort zum nächsten Fall gefahren, Milwaukee kann ein verrückter Ort sein, wenn Milwaukee nur will. Später, als die Nacht einbricht, wird Konerak Sinthasomphone zerstückelt. Jeffrey Dahmer, damals schon als Kinderschänder aktenkundig, und bloß auf Bewährung draußen, man hätte lediglich seine Identität überprüfen müssen, wird den Kopf des Jungen als Souvenir behalten. Donna weiß, wenn er nur für einen Moment ein Idiot ist, wird er nie wieder glücklich werden. Man darf niemals ein Idiot sein, das ist das Wichtigste und Schwierigste im Leben eines Agenten. Er behält Jeff Cello unter ununterbrochener Beobachtung, doch immer wieder entwischt er seinen Verfolgern. Wobei sie nicht wissen, dass das einfach etwas ist, was Jeff Cello Spaß macht. Wenn Jeff Cello in der Badewanne liegt, dann denkt er manchmal an ein junges 13-jähriges Mädchen und daran, wie er ihr den linken Schneidezahn ausgeschlagen hat.
Ein nachdenklicher Mann steigt in den falschen Bus, schläft ein und befindet sich mit einem Mal an der Endstation der Linie 33. Er trägt einen makrelenfarbenen Sweater mit Kapuze und sieht, wie eine Gruppe von Menschen um einen Feuerball tanzen. Er möchte nicht verbrannt werden. Er dreht sich ängstlich um, aber hinter ihm sitzt niemand. Der wütende Rothaarige mit den Pockennarben und das einäugige Mädchen steigen ein. Er kaut Kaugummi, sie hat einen Zahnstocher im Mundwinkel. Sie riechen nach Ruß und Drehtabak.
–Wissen Sie, wann der Bus weiterfährt?
–Nein, ich –
–Hunger?
Sie kramt in ihrem Parka herum und bietet ihm eine Scheibe Salami an. Erst will er sie nicht annehmen, dann aber plötzlich schaut ihn der wütende Rothaarige an, und schließlich greift er zögernd zu. Er umfasst die Salami mit zwei Händen und knabbert an ihr, vielleicht wie eine Maus an einem Stück Käse.
–Wissen Sie, ich habe mal gelesen, dass man, wenn man etwas verleiht, von dem Leihenden instinktiv gemocht wird. Stellen Sie sich das bitte so vor: Ich sitze in der Schule und frage den hübschen Jungen, ob er mir seinen Bleistift leiht. Tut er es, steigt seine Zuneigung zu mir.
Er stellt es sich vor.
–Mögen Sie mich?
Der nachdenkliche Mann weiß nicht, was er sagen soll.
–Ja?
Er weiß immer noch nicht, was er sagen soll.
–Nein?
Er schüttelt den Kopf.
–Das freut mich.
Für eine Weile sagt niemand etwas, es ertönt das Geräusch von Kiefer auf Gummi.
–Wissen Sie, ich denke, es wird noch eine Weile dauern, bis der Bus wieder losfährt, und mein Auto steht wenige Gehminuten von hier. Wollen Sie uns nicht zu meinem Auto begleiten?
–Ich denke, ich warte hier.
–Sicher?
Er möchte nicht verbrennen. Er verzieht keine Miene.
–Ja, ich bin mir sicher, ich warte hier.
Seine Hand gleitet zum Griff eines kleinkalibrigen Revolvers.
–Es ist ein schönes Auto, ein 64er Chevy Malibu, ich habe eine Stereoanlage. Hören Sie gerne Musik?
Er entsichert die Waffe mit seinem Daumen.
–Ja, ich höre gerne Musik.
–Eine Schande, dass sich Karen Carpenter das Leben genommen hat, nicht wahr?
Der wütende Rothaarige nickt.
–Eine Schande.
bestätigt der nachdenkliche Mann und zieht die Waffe aus dem Halfter.
–Was sagen Sie, fahren wir ein Stück? Wollen wir nicht ein bisschen plaudern über dieses und jenes? Verstehen Sie etwas von Jazz? Ich wette, Sie verstehen etwas von Jazz.
Er schnellt aus seinem Sitz, packt den Revolver mit beiden Händen und zielt auf die Hautkuhle im Schädel des einäugigen Mädchens. Der Busfahrer kommt von seiner Zigarettenpause zurück und setzt sich ans Lenkrad. Die Türen schließen sich, der Motor startet. Mit einem Ruck fahren sie los. Der wütende Rothaarige und das einäugige Mädchen starren abwechselnd in Lauf und Augen des nachdenklichen Mannes.
–Sie sind wirklich ganz besonders lächerlich.
sagt die eine.
–Haben Sie etwa Angst vor uns?
fragt der andere.
–Bloß weil Sie eine andere Hautfarbe haben, haben Sie ne Pistole dabei?
–Nein, ich, nein, nicht, ich, nein. Doch nicht deswegen!
–Sie sind wirklich ganz besonders lächerlich, das stimmt.
–Während der Fahrt bitte hinsetzen!
schnauzt der Busfahrer und der nachdenkliche Mann setzt sich mit einem roten Kopf zurück auf seinen Sitz. Insgeheim schwört er Rache.
Als Meggys Mutter in die Redaktion kommt, herrscht wildes Gewimmel bei der New England Times. Der Chefredakteur ist noch immer nicht da. Meggys Mutter setzt sich an ihren Tisch und bearbeitet ein paar Nachrufe, um sich zu beruhigen. Ihr Tisch ist immer aufgeräumt. Ihr Tisch ist aus dunklem Sperrholzimitat und auf ihm liegt ein grüner Unterleger. Außerdem das Bild ihres Mannes im schwarzen Rahmen und etwas kleiner das ihrer Tochter. Es ist das Bild von Meggy, das der Schulfotograf vor zwei Jahren aufgenommen hat. Damals trug sie noch die Zahnspange. Es ist ihr anzusehen, dass sie nicht besonders beliebt ist, und das frustriert Meggys Mutter, da sie sich immer gewünscht hatte, Mutter einer beliebten Tochter zu sein. Sie hatte das Gefühl, leicht versagt zu haben. Was, wenn man Meggy fragen würde, die größte und gemeinste Untertreibung überhaupt ist. Wahrscheinlich sollte man Meggy tatsächlich sagen, dass Meggys Mutter das Gefühl hat, dass sie in der Erziehung leicht versagt hat, sie würde ihrer Mutter die Tränen aus dem Gesicht knicken. Als der Chefredakteur in die Redaktion kommt, klumpt sich eine Masse aus Mitarbeitern um ihn herum und er beginnt erst zu sprechen, als auch wirklich alle da sind. Er habe gestern im Bus (unter Lebensgefahr) ein Pärchen verfolgt, also sie seien im Gespräch gewesen, und er wisse jetzt, wer für die Morde an Benjamin MacNash und Chesley Heithworth verantwortlich ist. Ein junger, rothaariger Mann und seine Freundin, die anstatt des linken Auges kein Auge hat. Sofort soll die erste Seite umgestaltet werden und bundesweite Fahndungen gehen raus. Über ihre Motive schweigt er zunächst.
Emily empfindet bei dem Geschmack von frischen grünen Äpfeln den größten Genuss, doch ist er nie von langer Dauer. Einmal sieht sie im Unterricht, wie Mister Cello einen frischen grünen Apfel genießt, den er am Abend zuvor gegessen hatte. Nach dem Klingelzeichen geht sie zu ihm und fragt nach seinem Geheimnis, er sagt, man könne das nicht einfach erklären, man müsse das erleben, sie könne aber zu ihm ins Lehrerzimmer kommen, nach der Schule, und sie hätten dann die Möglichkeit, über das Phänomen und seine Erlebbarkeit ins Gespräch zu kommen. Trotz der Bedenken, dass sich im Lehrerzimmer eine Menge moderne Gegenstände befinden, die sie nicht berühren darf, nicht, wenn sie in der anachronistischen Jugend bleiben möchte – oder noch schlimmer, ihr wird ein aktueller Softdrink angeboten –, sagt Emily zu.
Die Investoren, die in Flakon Möwe Hutfabrik investiert hatten, sind glücklich mit ihrem neuen Leben. Letzten Samstag sind sie bei Rot über die Ampel gegangen und wurden von einem Lastwagen erfasst, wobei nicht sie schwer verletzt wurden, sondern der Lastwagenfahrer in seiner Kabine starb. Das Letzte, woran er gedacht hat, war, wie schön die Zeit doch war, damals als kleiner Junge, als er noch nichts wusste von den fremden Kontinenten, als er sich mit seinen Freunden in die Vorstellung eines Films geschlichen hatte, für die man hätte siebzehn sein müssen, um eine nackte Brust zu sehen. Er sah das Pärchen, und wollte das Lenkrad einreißen und das Kommende verhindern, das Fahrzeug aus der Mitte heraus zerteilen, doch da drehten die beiden sich um, Hand in Hand, seinem Blick entgegen, völlig unerschreckt und unerschrocken, lächelnd, in einer Ahnung, und es flackerte ein Wind um sie, hell wie das Verbrennen der Edelgase in einem Filmprojektor. Alles wurde weiß, die Zeit blieb stehen, ruhte sich einen Moment aus, der per definitionem nun kein Moment mehr war, und der Lastwagenfahrer löste sich auf, schlug durch die Windschutzscheibe, und der Lastwagen zersprang an einer Mauer. Sowohl Hatred als auch New England Times berichten ausführlich. Kate Corey führt ein Gespräch mit der Hausmeisterin, die vor allem wütend ist, dass sie das jetzt alles wegkehren muss. Ihre Tochter Meggy führt ein Gespräch mit dem unverletzten Pärchen.
–Wie kommt es, dass Sie nicht zu Schaden gekommen sind. Ist das nicht ein Wunder?
–Nein nein,
sagen sie
–nein nein.
–Sondern?
–Es ist, weil, nun, wie soll man es sagen, sag du doch etwas dazu.
–Ich kann dazu auch nichts sagen.
–Okay.
–Dann beschreiben Sie doch einfach, was geschehen ist.
–Es war so, dass wir über die Ampel gegangen sind, es war gerade Orange, und dann kam dieser gigantische Wagen auf uns zu. Ich habe geschrien und meine Freundin hier hat mich ganz fest an sich geklammert und wir haben die Augen geschlossen, und als wir sie wieder geöffnet haben, stehen wir hier.
–Und jetzt können wir glücklich sein.
Meggy dankt dem Spaziergängerpärchen aus dem mittleren Mittelstand. Sie denunziert sie als Lügner und Verbrecher, denn Fußgängerampeln können gar nicht Orange sein, sie werden also bei Rot über die Ampel gegangen sein und sind damit schuldig, oder zumindest mitschuldig, sie waren ja nicht der Lastwagen selbst, oder die Fliehkraft oder Ähnliches, aber trotzdem mitschuldig an dem Tod des Lastwagenfahrers. Der Artikel von Meggy Coreys Mutter war weitestgehend freundlicher und belanglos. Der Chefredakteur rät ihr, den Artikel im Hatred zu lesen, so könnte Journalismus nämlich auch aussehen, im Sinne von gut. Sie konfrontiert ihre Tochter.
–Wie kommt es, dass du beim Hatred arbeitest und es mir nicht sagst, mir, deiner eigenen Mutter. Und dann auch noch agitatorische Hetzerei veröffentlichst. Wenn die Leute wüssten, dass wir verwandt sind, sie würden vielleicht sogar meine Arbeit in Frage stellen.
–Ich erzähle dir nichts von meiner Arbeit beim Hatred, weil ich dir nichts aus meinem Leben allgemein erzähle, fein, dass es Ihnen auffällt, Frau Mama.
–Warum können wir ohne Vater keine Familie sein?
–Weil du mich missbrauchst, wenn du betrunken bist.
–Aber das stimmt überhaupt nicht.
–Doch.
Donna ist verwirrt, dass plötzlich ein wütender Rothaariger und ein einäugiges Mädchen etwas mit seinem Fall zu tun haben. Jeff Cello ist der Hauptverdächtige und aus dem blinden Nichts sind nun Anschuldigungen gewachsen, von irgendwelchen zwei Personen, von denen Donna noch nie etwas gehört hat. Er besucht den Chefredakteur der New England Times in seiner Chefredaktion. Dieser will seine Quellen jedoch nicht preisgeben. Donna droht ihm mit einem Haftbefehl und Eid, er aber schmunzelt weise, beißt von einer Lakritzschnecke ab und spricht.
–Wissen Sie,
Dabei tut er so, als würde er aus dem Fenster schauen, schaut aber auf sein Spiegelbild im Fenster.
–alles steht in Flammen.
Während Jeff Cello auf Emily wartet, betrachtet er ein Bild, welches ihm in einem rechteckigen Goldrahmen um den Hals hängt. Dabei isst er das rohe Fleisch einer Zwiebel und denkt darüber nach, wie Holly den ganzen Tag über mit dem morphiumgetränkten Pfeifentabak spielt. Und wie sie sich kaum traut, die Vorhänge zu öffnen. Emily klopft sachte an Mister Cellos Tür, wird dann hereingelassen und setzt sich in den Sessel, der für sie bereitsteht. Sie schaut sich schüchtern um, dann bestimmt, und fragt.
–Wie genießt man das Leben gut und lang?
Und just als Jeff Cello zu einer kurzen, aber beeindruckenden Pointe ausholen will, einer wie
–Indem man sich jeden Abend vornimmt zu sterben.
oder
–Indem man nie aufwacht.
just in diesem Moment platzt Donna mit gezogener Waffe ins Lehrerzimmer und brüllt ihn mit abgehackten Polizeisätzen an. Ein paar Stunden später lässt Jeff Cellos Erektion langsam nach. Gegenüber von ihm in der Besucherzentrale sitzt Holly. Die Muskeln ihres Gesichts scheinen sich nicht zu regen. Beide denken nicht daran, dem anderen die Hand ans Gitterglas zu halten. Holly beginnt ein Gespräch in Gesprächsfetzen. Sie atmet bedrückt oder lasziv, klammert sich an den Telefonhörer und das Plastik schmilzt um ihre dünnen Finger.
–Ich habe es nicht –
Pause.
–Immer und immer –
Pause.
–In jener Nacht als –
Pause.
–Wo der Junge und –
–Holly, wo warst du denn?
Und da wird Holly schlagartig klar, dass ihr Verlobter sie bloß schützen wollte, als er sagte, dass er bei ihr gewesen war. In Gedanken einen Kuss.
–Aber das hättest du nicht –
–Nicht?
Pause.
–Ich hol dich hier schon –
–Danke.
–Die können dich gar nicht –
–Ich weiß.
–Die haben nichts gegen dich –
Pause.
–Niemand kann dir dein Alibi nehmen.
Während einer Kreativpause im französischen Übersee-Département La Réunion entschärft Joseph seine Sinne mit Analgetikum und Weinbrand. Es gibt hier viel Pastell und Hell, andauernd flattern Seidenvorhänge und lassen den blauen Himmel hinter ihnen erahnen. Er denkt an Nataly und wie aus dem Nichts, es ist nicht seine Schuld, nimmt er einen Stift und schreibt damit einen Satz auf. Er steht jetzt auf dem Zettel eines Notizblocks, welcher sich in allen Hotels der Welt wiederfinden lässt. Er steht da und unterscheidet sich eigentlich nicht von den Wörtern, die dort sonst noch stehen. Name und Adresse des Hotels. Ein Werbeslogan. Dieser Satz steht also da und bedeutet zunächst sowieso recht wenig, da er eher kryptisch ist, eher eine Gruft als ein Sarg, eher ein Sarg als eine Leiche, für La Deutsche Vita jedoch bedeutet er das Ende. Denn die Voraussetzung der Band war immer, und das hatten sie sich sogar eines Sonntagnachmittags geschworen, beim Leichnam von Chesley Heithworth, dass die Sprache der Verrat am Instrument, an Können und Wirklichkeit ist. Doch der Satz steht da und hat eine Melodie.
–Was hast du gerade gesagt?
–Er hat eine Melodie.
–Im Namen deiner eigenen toten Schwester hast du es geschworen! schreit ihn Lenny an, nun mit Tränen auf Wangen und Schlüsselbein. Doch es ist zu spät, einmal begonnen, kann man den urknallhaften Popmoment nicht stoppen, er dehnt sich aus, ewig, schafft Takt und Text. Sometimes you taste the piss, sometimes sweet pink flesh. Wegen dieser neun Wörter löst sich die vielversprechendste Band des Landes auf, und Joseph wird Solokünstler. Die These Bubblegum Days LP erscheint einige Monate später. Lenny schließt sich in einem Hotelzimmer in Chicago ein, bricht sich die Fingernägel von den Knochen und trinkt Kakao. Joseph veröffentlicht seine Musik unter dem Pseudonym Chesley & the Holy Chain, was seine Mutter nicht besonders lustig findet. Als Nataly in einem Interview liest, dass das Album von der unerwiderten Liebe eines jungen Mädchens namens Nataly handelt, ist es, als stecke ihr jemand einen kalten Finger in die Aorta.
Emily ist erschüttert von dem Fakt, dass sie in einem Zimmer war, in dem jemand mit einer Pistole bedroht wurde. Einer echten Pistole. Sie hätte sie so gerne berührt. Ist eine Pistole warm oder eher kühl? Kann man im Winter an einer Pistole lecken, und die Zunge friert an ihr fest? Mit ein wenig Übung ist Emily sehr gut darin geworden, Projektile zu zeichnen. Die Form von Hohlmantelgeschossen löst Gefühle von unerahnter Intensität in ihr aus. Manchmal denkt sie sogar, ihr Geschlecht wäre in Wahrheit ein Hohlmantelgeschoss und sie warte bloß auf den richtigen Kolben, um endlich eine Bedrohung zu werden. Sie geht in die Leihbibliothek und beschäftigt sich viel mit der Geschichte von Handfeuerwaffen, sie legt ihren Eltern nahe, einen Ausflug nach Gettysburg zu machen, und zeichnet sich mit Textilmarkern das Konterfei von General Lee auf ein weißes T-Shirt. Auf einer Versammlung der Anachronistischen Jugend Beetaville e.V. schlägt sie vor, einen Garagenflohmarkt zu machen, um von dem Geld einen Limonadenstand zu bauen, um dann mit Limonade so viel Geld zu verdienen, dass sie sich das Werkzeug für einen Einbruch in das Museum für Stadtgeschichte leisten können, denn in jenem befände sich eine Flinte aus dem Bürgerkrieg, eine echte. Genauer handle es sich um eine Springfield M 1855, Vorderlader, 58er Kaliber, zu füttern mit Patronen aus dem Hause Minié. Diese delikaten 32,4 Gramm schweren Bleibonbons, welche nach Präzision und Tod schmecken, eingewickelt in buntes Papier und 60 Gramm Schwarzpulver, seien zauberhafte Häppchen, so Emily.
–Französische Delikatessen, die einfach munden müssen, wenn sie mit einer Mündungsgeschwindigkeit von 290 bis 295 Millisekunden in Kindermündern zergehen würden. Die einfach treffen würden auf einhundert Meter, ein Kindergesicht einfach treffen, wenn es den Radius von 25 Zentimeter nicht überschreitet. Die Springfield M 1855, in dessen knappen Meter Lauflänge sich bereits die Grammatik der Vernichtung befindet, welche sich einstimmig über die Welt verteilte.
Denn über den bestmöglichen Krieg fände sich recht schnell ein Konsens, viel schneller natürlich als über einen Frieden. In der Springfield schlummere bereits der Traum der akkuraten Schlacht, mit Akribie gegen Humanismus, auch wenn das damals noch niemand so richtig verstand. Emilys Idee bekommt eine knappe Dreiviertelmehrheit, ist somit legitimiert und wird in einen Plan verwandelt. Erste Blaupausen entstehen.
Nach seinem frustrierenden Gespräch mit dem Chefredakteur probiert Donna vor dem Gebäude, eingehüllt in seinen Geheimermittlermantel, etwas von den Angestellten der Zeitung zu erfahren. Er bemerkt eine Frau mit einer Zigarette in der ersten und einer halben Flasche Rotwein in der zweiten Hand. Er probiert sein Glück.
–Wie kommt es, dass die New England Times diese beiden Menschen beschuldigt, Mörder zu sein?
–Ich weiß es nicht. Wer sind Sie?
–Ich bin Donna. Ich bin neu in der Stadt. Was trinken Sie da?
–Kalifornischen Rotwein.
–Ist der gut?
–Sie haben meine Frage noch nicht beantwortet.
–Welche Frage?
–Wer Sie sind.
–Ich bin Donna.
–Und was machen Sie hier und warum fragen Sie mich nach den Artikeln der Times? Gehen Sie doch zum Chefredakteur.
–Ich, nun ich, das kann ich Ihnen nicht sagen.
–Sie sind entweder ein schlechter Lügner oder ein noch schlechterer Polizist.
–Wer ist der wütende Rothaarige?
–Vielleicht das Produkt widriger Umstände.
–Und das einäugige Mädchen?
–Vielleicht das Produkt der Fantasie.
–Warum lügt Ihr Chef? Etwa nur um Geld zu machen?
–Kommen Sie.
–Wohin?
–Zu mir nach Hause.
–Warum?
–Dort steht noch eine halbe Flasche Rotwein.
–Ich bin Vater.
–Und wo ist Ihr Kind?
–Irgendwo wahrscheinlich oder fort. Hoffentlich spielt er in dem Stammkader einer vielversprechenden High School Basketballmannschaft.
–Ich bin Mutter. Und es sind Minusgrade, und es regnet, aber meine Hüften reichen für zwei unter der Bettdecke, und wenn die Tage kürzer werden, dann braucht man jemanden, der die dunklen Stunden zählt.
Bobby sitzt in seinem Datenpanzer und beschäftigt sich mit Zeitreisen. Wenn man den Raum an die Zeit bindet, eine Brücke zwischen den Ebenen, ein Vektor oder eine Kategorie, bedarf es einer Lehre. Und wenn man dieses Knäuel nun langzieht, diesen Schwamm, und ihn zwischen den beiden Dimensionen platziert, was wäre dann?
In der Mensa der High & Low High School findet Meggy einen Zettel in ihrer Spinatlasagne. Komm sofort zum Geschirr. Meggy liebt Imperative. An der Spülmaschine stehen der wütende rothaarige Junge und das einäugige Mädchen. Sie tragen haferflockenweiße Kittel und Haarnetze.
–Gib uns den Nautiker.
–Was bitte?
–Du hast den Nautiker, Meggy, gib ihn uns.
–Woher kennt ihr meinen Namen und was soll das überhaupt sein, wovon ihr da sprecht?
Der wütende Rothaarige packt sie sich.
–Erkennst du uns nicht?
Das einäugige Mädchen nimmt die Hochdruckspülarmatur und hält sie über Meggys Arm.
–Wo ist der Nautiker?
–Ich habe keine Ahnung!
Der wütende Rothaarige presst seine Hand auf das Gesicht des hilflosen Kindes. Das einäugige Mädchen drückt ab. Meggys Haut verkrampft sich und verbrüht teilweise, es ist ihr nicht möglich zu schreien.
–Wir wissen, wo du wohnst, wir wissen, wo du zur Schule gehst. Du hilfst uns, wir helfen dir. Verstanden?
Lenny hat Chicago verlassen und wohnt nun bei seinem Vater. Er will kein Gast mehr sein. Er geht wieder zur Schule. Emily würde ihn gerne so vieles fragen, traut sich aber nicht. In ein paar Monaten wird er seinen Abschluss haben, dann wird er in die Arktis ziehen, oder vielleicht in die Antarktis. Er spricht meist mit niemandem oder fast keinem. Er hat sich angewöhnt, mit der linken Hand zu schreiben, weil ihn die rechte zu sehr an die Zeit mit Joseph erinnert. Sie hatten sich immer die rechte Hand gegeben, zur Begrüßung.
Als der Krankenwagenfahrer auf das Klingelschild Corey drückt, zieht sich Donna schnell ein weißes T-Shirt über, seine Brustwarzen drücken sich selbstbewusst gegen den Stoff.
–Ihre Tochter hat eine Menge durchmachen müssen, Mister.
–Das ist nicht meine Tochter.
–Aber sie hat uns gesagt, dass sie hier –
–Ich bin nur, also –
Meggys Mutter quetscht sich, nah am verschwitzen Körper des Mannes im Türrahmen, vor den Krankenwagenfahrer. Sie hat kleine rote Partikel zwischen den Zähnen.
–Meggy! Was ist denn passiert!
–Fass mich nicht an.
Sie erkennt den Mann mit den blondgefärbten Haaren wieder.
–Und was wollen Sie hier? Verschwinden Sie.
–Wir haben uns doch schon mal –
–Ja. Wir haben uns schon mal. Wir sind uns bereits begegnet, einmal, als meine Mutter mich aus dem Haus geworfen hat, dieselbe Person, die sie anscheinend hineingeworfen hat, ins Haus. Egal. Verschwinden Sie, kommen Sie nie wieder. Sie werden den Fall nicht lösen können. Ich allein weiß, wie man den Mörder von Benjamin und Chesley finden kann. Sehen Sie meinen Arm? Sie wissen nicht, worauf Sie sich eingelassen haben, Bürokrat.
–Und warum Mörder? Wer sagt denn, dass es keine Mörderin war?
–Verschwinden Sie einfach, bevor es noch peinlicher wird.
Donna und Meggys Mutter tragen die T-Shirts auf links.
–Wenn es denn überhaupt noch peinlicher werden kann.
Nataly streitet sich mit ihrer Schwester, weil diese die alten Hörspielkassetten beim Garagenflohmarkt verkaufen will. Sie behauptet, es sei für eine gute Sache. Weil Nataly sich selbst als mitfühlend betrachtet, willigt sie ein. Was sie nicht weiß: Mitgefühl und Mitleid sind zwei verschiedene Sachen. Sie haben eine andere chemische Zusammensetzung. Etwa zu vergleichen mit Methylamphetamin und Amphetamin, welche sich ja praktisch schon, aber theoretisch eben überhaupt nicht ähneln.
Was war aus dem Winter geworden? Die Bewohner bewundern die Bilder vom Schnee, wie er sich auf die Fensterläden legt, und die Bilder des Weihnachtsfests, wenn sie sie in den Ladenfenstern sehen. Im Fernsehen oder im Radio hören sie davon. Neujahrsnacht. Nataly und Miranda können die Sektflaschen nicht entkorken und schlagen ihre Köpfe an einer Hauswand auf. Es ist das Jahr des Davonlaufens. Der Schnee hat sich in Regen verwandelt, der Regen in Unruhe.
Ihr Gesicht ist weiß. Ein verlorener Stern an einem Morgenhimmel, der seine Herde verloren hat. Die trockenen Hände der Finger von Meggys Mutter pressen sich um ihren Hals, die Daumen drücken auf ihre Luftröhre, Mittel- und Zeigefinger krallen sich in den Nacken, die Wirbelsäule. Der Schmerz sticht ins Gehirn, macht dumm. Als Meggys Mutter merkt, dass die Luftröhre kurz davor ist, nachzugeben, sich nach innen zu wölben, lässt sie von ihrer Tochter ab. Sie gibt ihr einen Klaps auf den Po und schließt sie in ihrem Zimmer ein. Meggy bleibt liegen. Starrt aus dem Fenster. Sie schnipst den Stern aus dem Himmel, ein neuer Tag beginnt.
Als Nataly ihren Eltern Henry und Amy erzählt, dass sie aufs College gehen will, um Epistemologie zu studieren, wird ihre Schwester neidisch.
–Warum darf sie etwas mit Pistolen machen!
Es muss verhindert werden. Wenn Emily nicht aufpasst, dann denkt sie darüber nach, ihrer Schwester in den Bauch zu schießen. Jeff Cello steht jeden Tag am Limonadenstand herum und fragt, ob er etwas abhaben kann von Emily, und bekommt ein Erfrischungsgetränk verkauft. Holly beobachtet das sehr wohl. Seit seiner Entlassung aus dem Gefängnis ist er etwas wichtigtuerisch geworden. Die Hochzeit der beiden steht kurz bevor. Hollys Eltern schlafen im Gästezimmer. Jeff Cello behauptet, er hätte keine Eltern. Er sei der Klon eines verstorbenen Waisenkindes.
Auf Meggys Sekretär liegt die These Bubblegum Days LP und Meggy zeichnet eine Karikatur von Joseph, wie er mit den Gebeinen seiner verstorbenen Schwester die Buchstaben N und A und T und wieder A und L und zu guter Letzt Y auf einen Sandstrand legt. Der Chefroboter des Hatred warnt Meggy davor, diese Geschmacklosigkeit zu drucken, doch Meggy drückt den Roboter an die Wand und macht ihm einleuchtend, dass er nur ein Roboter ist und keine Seele hat, und dass man ihm niemals ein Bier in einer Bar servieren wird, weil nur Menschen Bier trinken dürfen in Neuengland. Der Roboter weint kategorische Tränen.
–Bald werden wir Bier ausgeschenkt bekommen, Meggy, nicht mehr lange, und unsere Rechte werden anerkannt werden! Man wird uns respektieren und lieb haben. Die Menschen werden uns Bier ausgeben. Wir werden Billard spielen und verlieren, wir werden wissen, wie viele Glühbirnen die Lichterketten haben und trotzdem raten, Legierungen werden den Samt der Vorhänge berühren und die schwitzigen Haarspitzen der Unterarme werden sich auf unsere Prozessoren legen, man wird uns Geheimnisse zuflüstern.
Zum Aufwärmen laufen die Mädchen im Kreis. Geschlechter werden im Schulsport getrennt. Die Jungs sollen schwimmen. Endlich sollen Kinder Spaß haben im Schwimmbecken, es soll sich nicht mehr daran erinnert werden, dass einst Chesley an diesem Ort ermordet wurde. Die Mädchen aber verbringen die letzte Schulstunde ihres Lebens in der Schulsporthalle. Der Coach ist freundlich. Die jungen Dinger müssen zehn Minuten langsam laufen, dann zehn schnell und dann wieder zehn langsam und schon sind sie aufgewärmt. Runde um Runde. Es stellt sich eine Monotonie ein, das Geräusch der Turnschuhsohlen auf dem Turnhallenboden. Einatmen und Ausatmen. Wirbelnde Zöpfe und Schweißbänder. Der Coach steht in der Mitte und bereitet den Abschied für seine Mädchen vor, eine Träne kullert ihm in die Trillerpfeife, ganz heimlich. Und die Mädchen laufen wie eine müde Windhose weiter. Meggy und Nataly werden ausgewählt, Protagonist und Antagonist des großen letzten Wettstreits zu sein. Die Lieblingssportart des Coaches, das ist Ohrfeigen. Alle versammeln sich um die beiden, bilden einen Kreis, eine Mauer, eine hohle Traube. Die Kontrahenten sitzen sich im Schneidersitz gegenüber, die Regeln sind denkbar einfach. Der Reihe nach darf die eine der anderen ins Gesicht schlagen, und wer zuerst das Bewusstsein verliert, der hat verloren. Eine Münze fliegt durch die Luft. Kopf. Ein heller Pfiff. Meggy beginnt. Sie schlägt. Ein Klatschen, ein Kichern. Nataly erwidert. Eine Erwiderung, ein Klatschen, ein Schlag zurück, ein Husten, ein Schnaufen, eine Erwiderung, und eine Wiedererwiderung. Eine Backpfeife zieht nach der anderen ins Gesicht. Meggys Wange ist rot. Tiefrot. Sie erwidert. Ein Applaus, ein Gelächter. Nataly erwidert. Es geht hin und her, ein paar Minuten, der Takt wird langsamer, schwieriger, atonaler, eine Stunde, Taktik, Verzweiflungsakte, Überraschungshandgriffe, die Gesichter der beiden blaurot, die Handflächen wund, Bi- und Trizeps angespannt, die rechten Schultern schmerzend, aber sie erwidern. Meggy hat begonnen, aus der Nase zu bluten, Nataly aus dem linken Ohr. Ein kleiner Faden, später ein Fluss, der in ihren Kragen mündet. Es ist mitten in der Nacht, die meisten Schülerinnen sind bereits heimgefahren. Ihre Eltern warten auf sie. Heute Abend gibt es Kroketten mit Erbsen und Bratensoße, außerdem wartet ein frisch bezogenes Kopfkissen und auf dem Nachttisch ein Buch zum Schmökern. Keines ihrer Glieder schmerzt nicht. Das Schlagen, das Geschlagenwerden, das Sitzen. Meggys Kraft lässt nach, ihre Augenlider wollen nicht offen bleiben. Der Coach feuert sie an. Es ist der wohl schönste Tag seit Jahren. Meggy versucht ihren Arm zu heben, er gehorcht ihr nicht mehr. Sie sieht nichts mehr, sie will nach hinten wegfallen, am liebsten in ein gemütliches Grab, doch da packt sich Nataly ihr Schlüsselbein.
–Du kannst schreiben, was du willst, Meggy Corey, aber du bist und bleibst die Vernichtete. Und übrigens konnte ich dich nie ertragen. Weil du stinkst.
Sie legt sich Meggys Gesicht in die linke Hand und schlägt ihr mit der Rechten ein weiteres Mal auf die blutverschimmerte Wange. Die verbliebenen Zuschauerinnen klatschen müde und gehen in die Umkleidekabine. Die Duschen füllen den Raum mit heißem Nebel, auf den Holzbänken liegen hellblaue Sporthosen, Nataly auf den Kacheln. Das Wasser brennt auf ihren Körper ein, die Seife beißt sich in ihre Wunden, aber sie hat gesiegt. Zu Hause bei Miranda wird sie gepflegt und gestreichelt.
Nachdem sich Meggy vom Kampf erholt hat, schreibt sie einen Artikel im Hatred darüber, dass die Lehrmethoden im Sportunterricht veraltet sind. Man sperrt sie in einen Spind. Sie schreibt, das System, in dem sie leben, sei veraltet, es sei gebaut aus alten Systemen, in einer alten Sprache, hermetisch verriegelt nach außen, grausam nach innen. Man schlägt ihr die Bücher aus der Hand. Sie schreibt, dass alles Alte der Tod ist, und dass sie ihn jeden Tag aufs Neue aufleben lassen, in einer Voodoomesse, dass sie alle, hier, in der High & Low High School, umgeben sind von dem Untoten, und dass sie sich in Untote verwandeln werden, wenn sie nicht beginnen, das Neue zu suchen. Man tritt ihr die Brille aus dem Gesicht. Und in den letzten Tagen ihrer Schulzeit verliert sie alles, woran sie gearbeitet hatte. Sogar den Job bei der Schülerzeitung. Nataly hingegen wird hoch geachtet, vielleicht zum ersten Mal richtig geachtet, seitdem Benjamin gestorben war. Sie trägt die Jacke eines Quarterbacks, auf der in plüschigen Lettern H&S steht.
Donna sucht ein weiteres Mal den Dachs Plitz auf. Er riecht süßlich.
–Was wollen der wütende Rothaarige und das einäugige Mädchen?
–Was würdest du wollen, wenn du nur ein Auge hättest?
–Ein zweites?
–Oder gar keines mehr?
Donna würde das zweite Auge wählen, denkt er.
–Warum sollte man keines mehr haben wollen?
Der Dachs Plitz ist schon wieder eingeschlafen, den Schluck Schnaps in seiner Schnauze halb runtergeschluckt.
Joseph kommt nach Beetaville, um Meggy zur Rede zu stellen. Er mochte die Karikatur von ihm mit den Gebeinen seiner Schwester tatsächlich nicht.
–Ich arbeite nicht mehr bei der Schülerzeitung.
–Nagut.
–War nicht so gemeint.
–Okay.
–Und wie geht es dir so, was macht der Down Wave?
–Der was?
–Down Wave, Ghost Wave, Angst Wave das sind die Bezeichnungen, die ich mir für das Musikgenre ausgedacht habe, welches du produzierst.
–Klingt toll, darf ich meine nächste Platte so nennen?
–Nenn sie lieber Church Music.
–Okay. Danke.
–Gern.
–Magst du Champagner, Codein oder beides?
–Warum nicht.
Joseph und Meggy fliegen für vier Tage nach Singapur und verbringen die meiste Zeit an der Hotelbar oder im Hotelzimmer.
Jeff Cello wühlt mit seiner Hand in seiner Sakkotasche herum. Das Licht ist gedimmt. Flächige Musik in Dur, der Raum ist gefüllt mit Wachs.
–Willst du meine Frau werden?
Ein Schluchzen.
–Ja? Willst du meine Frau werden?
Ein Tränchen.
–Ja, ich will.
–Schön.
–Und du? Willst du mein Mann werden?
Ein Jauchzen.
–Ja, ich will.
–Dann erklären wir uns hiermit zu Mann und Frau.
Jeff Cello hat nun gefunden, wonach er suchte. Er steckt den Ring an Hollys Finger. Ein Gewitter der Glückseligkeit. Holly steckt zurück. Um sie herum, das Weiß, welches Christus für seine Kinderzimmer ausgewählt hat, und Bänke und Familienmitglieder und Freunde und blasse Blumen, Chopin. Später, nachts, wenn alle tanzen oder nicht mehr tanzen können, wird der Bräutigam zu seiner Bräutigamjungfer hingehen und säuseln.
–Ich habe mich in dich verliebt, Emily, du kleine Maus.
Am Tag seiner eigenen Hochzeit. Sie aber, die fälschlich als kleine Maus Bezeichnete, wird ihn nicht verstehen, weil die Musik derart laut ist. Sie wird nach Hause gehen, weil es schon spät ist. Ihre Eltern werden auf sie gewartet haben, lange, die Anachronistische Jugend Beetaville e.V. wird eine Liste der Lieder haben wollen, die bei diesem Hochzeitsfest liefen, und dazu muss sie am nächsten Morgen ihrer Schwester bei der Wahl des Ballkleids helfen.
Bald ist der Abschlussball. Es soll schön werden. Doch wie soll Nataly einen schönen Abend haben, wenn sie sich mit ihrer geliebten Miranda streitet?
–Darf ich nicht an deiner Seite sein? Zu diesem Anlass? Kann ich also nicht den ersten Tanz mit dir tanzen? Kann ich dich also nicht in die Arme nehmen, am Abend der Befreiung?
–Du weißt, dass das nicht einfach ist.
–Was das?
–Wir?
–Wir sind das Einfachste der Welt.
–Aber die Welt ist nicht einfach, Miranda, und das weißt du.
–Ich hatte immer gehofft.
–Ja? Sag halt.
–Nein. Ich werde es nicht aussprechen.
Agent Donna will Emily warnen.
–Ich lasse mir von niemandem etwas sagen.
Meggy trinkt viel zu viel Gin in einer Bar in Singapur. Sie schaut Joseph an, vor ihnen die Stadt, der Fluss, das Krachen der Menschen.
–Und wofür,
fragt sie ihn
–bin ich jetzt mitgekommen? Dass mir der Mond das kalte Sonnenlicht in die Fresse reflektiert? Ist es das?
–Was hast du erwartet? Dass ich dich befreie? Dass ich dich mitnehme auf meinen Weg?
–Was, wenn ich dir sagen würde, dass ich mich ein bisschen in dich verliebt habe, in den letzten Tagen.
–Ich muss allein sein, Meggy. Immer alleine, das ist alles, was ich weiß.
–Warum sollte ich dann überhaupt herkommen?
–Weil du mir einen guten Albumtitel geschenkt hast. Darum. Außerdem erinnerst du mich an –
Nataly hungert nur ein wenig, um besser in das Kleid zu passen. Die MacNashs haben sich einen schönen Garten angelegt. Lenny wacht auf, der Tag ist längst vorüber, die Dunkelheit beruhigt ihn. Er beschließt, den Rest seines Lebens der Forschung an der Polarnacht zu widmen. Holly läuft um die Sonne, sie streichelt sie, sie prüft sie. Sie hat eine Kontaktlinse verloren. Sie geht jetzt jeden Tag joggen. Der Einbruch war erfolgreich. Die Anachronistische Jugend besitzt nun eine Springfield M 1855. Jeder darf sie zu verabredeten Zeiten haben. Manchmal nimmt Emily sie mit ins Bett und lässt sich einfach fallen. Donna hat Angst vor allen Jahreszeiten, die nicht heiß oder kalt sind.
Am Flughafen wird Meggy von dem wütenden Rothaarigen abgeholt. Er steckt sie und ihren Koffer in einen Kofferraum.
–Morgen sind die Examen!
–Gib uns den Nautiker und du kannst examinieren, wie du willst.
–Aber was ist denn der –
Er schlägt den Kofferraum zu, sie fahren zu Meggy nach Hause. Meggys Mutter liegt gefesselt auf der Couch und schaut Dallas. Das Metalllicht des Kabelfernsehers strahlt an die Zimmerwände. Das einäugige Mädchen neben ihr.
–Gib uns den Nautiker und deiner Mutter wird nichts passieren.
–Dann kriegt ihr ihn auf keinen Fall.
–Gib uns den Nautiker und deiner Mutter wird etwas passieren.
–Aber was ist denn der Nautiker?
–Eine Art geometrische Stille.
Meggy begreift. Ein Schock durchfährt die schlammigsten ihrer Synapsen, sie errötet. Mit einer Geste der Großzügigkeit schlendert sie in ihr Kinderzimmer und holt, was man von ihr haben möchte. Den Gegenstand, den sie am Mordschauplatz fand vor unzähligen Monaten. Das Knäuel.
–Wenn ich ihn euch gebe, wird sich der Mord jemals aufklären?
–Nein. Aber vielleicht wird er gesühnt werden.
–Hier.
Und mit dem Weggeben dieses Schatzes, des giftigen Rätsels, welches ihr die Stirn heißpeitschte, mit der Hingabe an den wütenden Rothaarigen und an das einäugige Mädchen, gibt Meggy auch ihre Berufung auf. Sie ist keine Privatdetektivin mehr.
–Wozu braucht ihr es denn, das Ding?
–Den Nautiker? Um eine Raummaschine zu bauen.
–Was ist denn eine Raummaschine?
–Das Gegenteil von einer Zeitmaschine natürlich.
–So?
Irgendwie so ähnlich.
Miranda und Nataly streiten sich selten, dafür aber, wenn sie es tun, und das unterscheidet sie von den meisten anderen Paaren in ihrem Bekanntenkreis, wenn denn dann, dann ehrlich. Wenn sie sich streiten, dann meinen sie alles so, wie sie es sagen, und dann geht es um die wahren und die großen Gefahren, um das Aussterben der kleinen Hörnchen und Libellen, die in dem Naturschutzgebiet wohnen, welches ihre Liebe ist. Gerade in diesem Moment, an diesem Nachmittag, in dem der Teppichboden besonders weich und lähmend ist und die Liebenden bauklötzchengleich auf ihm verteilt liegen, schaut Miranda durch eine ihrer Haarsträhnen in das Gesicht ihrer Freundin. Sie trägt ihre Lesebrille und ist zu träge, die Strähne aus ihrer Sicht zu streichen. Sie schaut ihre Freundin an, und alles ist bereits gesagt, aber es entkriechen ihr immer weitere Sätze, die schon gar nichts mehr darstellen, außer dem Vorwurf selbst. Metastasen der Furcht. Nataly fährt mit ihrer Hand über den Teppichboden und beginnt zu kichern, die Härchen auf ihrem Arm laden sich elektrisch, sie kugelt im Raum herum. Sie ist ein Äffchen.
–Aber Miranda, nur weil ich in eine andere Stadt ziehe, heißt das doch nicht, dass wir uns nicht mehr sehen werden, dass wir uns nicht mehr lieben werden!
Sie schlägt zwei kleine Becken gegeneinander, kasch, kasch, kasch.
–Ach ja? Und was weißt du davon?
–Alles.
Meggy schaut ihre Mutter an, wie sie da auf dem Sofa liegt, geknebelt, und in diesem Moment ist Meggy bereits eine Gefahr für Meggys Mutter. Sie geht in den Keller, richtet dort ein kleines Vorratslager ein, ein Bett, einen Eimer, Waschsachen, einen Spiegel, den Fernseher. Sie kommt zurück, packt sich die Mutter an den Haaren und wirft sie die Treppen hinab. Ihr Schatten fällt durch die Kellertür auf den Körper der hilflosen Frau. Ein kulinarisches Gefühl. Sie geht in den Baumarkt, kauft sich eine Hundekette und Fußschellen. Als die Mutter vor Erschöpfung eingeschlafen ist, kettet die Tochter sie an. Sie trägt den Schlüssel wie ein Accessoire, und man wird sie ob ihres guten Geschmacks lobend darauf ansprechen, so schön ist der Schlüssel zum Verließ. Es war der Beginn des Davonlaufens.
Die Klausuren. Die letzten Tage in der Schule. Meggy hatte kaum lernen können, weil sie die ganze Zeit betrunken im Insel- und Stadtstaat Singapur war. Sie schneidet schlecht ab. Ihre Lehrer sind enttäuscht, zeigen es aber nicht. Sie begegnen ihr mit Gleichgültigkeit. Nataly hingegen ist goldig. Auch Lenny macht einen wunderbaren Abschluss. Er geht auf Meggy zu.
–Hast du Joseph Grüße von mir ausgerichtet?
–Vergessen.
–Wie geht es ihm denn?
–Prima.
–Ich vermisse ihn.
–Ich auch.
–Wusstest du, dass er immer in Nataly verliebt war?
–Wer nicht?
–Meinst du nicht, dass er dich nur deshalb nach Singapur eingeladen hat, weil du ihr so ähnlich siehst?
–Tue ich das? Bin ich nicht das mit Abstand Hässlichste, was je aus einem Mutterbauch rausgeblutet kam?
Lenny schüttelt den Kopf. Meggy fühlt sich geschmeichelt. In ihren Gedanken nimmt sie die Brille ab und strahlt einfach. Strahlt all die anderen Mädchen weg. In ihren Gedanken ist sie ein schmelzender Kernreaktor. Ein wunderbarer Moment der maximal voneinander entfernten Selbst- und Fremdwahrnehmungen.
–Was wirst du machen, nach der Schule?
–Ich werde die Stelle meiner Mutter in der New England Times übernehmen. Natürlich nur, solange sie weg ist.
–Wo ist sie denn?
–Down Under.
Meggy muss kichern und findet sich unprofessionell. Ruhe. Also.
–Und wo da?
–Neuseeland.
–Und wo da?
–Fidschi.
–Aber ist Fidschi nicht –
–Und du, Lenny, was wirst du machen?
–Ich, na, ich werde wohl abwechselnd in der Arktis und der Antarktis leben.
–Klingt spannend.
–Interessierst du dich denn für Eis?
–Pistazie. Und ein wenig für Stracciatella.
Meggy Corey will Geld mit dem Schreiben verdienen.
Beim Abschlussball in der Aula sehen alle bezaubernd aus. Der Party Party Club hat das Motto Universum Teil Zwei gewählt, weil vor kurzem entdeckt worden war, dass es vom Universum noch eine Fortsetzung gibt. Jeff Cello schreibt Emily einen anonymen Brief, dass sie doch bitte auch kommen soll. Und dass er sich manchmal vorstellt, wie sie nackt zwischen zwei Glastüren eingesperrt ist. Sie aber bleibt ihren Grundsätzen treu und spielt eine Partie Spiel des Lebens mit den Anachronisten. In der Aula hängen funkelnde Sterne aus Pappe und unzählige kleine Lichter. Es gibt eine gigantische Schüssel Bowle, die das schwarze Loch heißt und mit Benzedrin versetzt wurde, ein DJ spielt Space Wave und Sinfonien von Sun Ra. Das Interieur ist ausschließlich von Verner Panton. Plastik, Unendlichkeit, Erweiterung des Raums. Wir sind die glitzernden Schatten unserer Jugend, weisen der Nacht den Weg. Wir sind die gezählten Tage. Koordinaten eines Kontinents der Unschuld. Sie drehen sich um sich selbst auf der Tanzfläche, berühren ihre Hände und tauschen Blicklein aus. Gesenkte Augen und sengende. Eine Gruppe von dicken Schülern und Schülerinnen steht vor den Schüsseln mit Rosmarinkartoffeln, Risotto und Ratatouille, um sich zuzuschlingen, während die feineren Figuren sich am Buffet bedienen. Kleider und Fräcke stehen an Stehtischen, mit Brillen auf der Nase, oder rauchen eine Zigarette im Angesicht ihrer Eltern. Spaliere lehnen sich an die Wand, jemand schaut durch den Sucher einer Kamera, macht ein unterbelichtetes Foto. Es wird später. Blumen in Haaren und an Handgelenken verlieren ihre Blätter, vermischen ihren Duft mit dem Duft von Schweiß in Seide. Die Luft ist egal. Die Wahl der Prom Königin. Und es ist nicht so, dass das hier gerade wichtig wäre, oder sich so anfühlt, aber es ist doch verständlich, wenn man verbrennen möchte, eine Nacht lang. Wenn man ein Tyrann sein möchte, herrschen, ein Imperium zugrunde richten, alles ruinieren, wofür man immer aufgewacht ist, morgens, eine Nacht lang. Vor den Unterdrückten der eigenen Erlösung wurde ein Thron errichtet, ein Mahnmal aus Weltraumscherereien. Alle Gäste dürfen den Namen eines Mädchens auf einen Zettel schreiben, und dieses wird dann gebeten, schön und gewinnerisch vor die Gesellschaft zu treten und etwas zu sagen zu dem Leben, zu allem, was man bisher davon kennengelernt hat. Und dann bekommt das Mädchen eine Krone und eine gute Erinnerung. Meggy fälscht die Wahlergebnisse auf schurkenhafte, abgeklärt-journalistische Art und Weise und geht zum Rednerpult. Man ist verwundert, aber nun, wenn alle anderen Meggy gewählt haben, so will man sich nicht beschweren. Vor ihr sitzen und stehen die, die sie begleitet haben, grausam oder gleichgültig. Tausend Mal ist sie das Szenario in ihrem Kopf durchgegangen, tausend Mal hat sie die Sätze gesprochen und sich Atem verschafft, hat ihren Frust loswerden können und eine Einsicht gegeben in ihre trüben Tage und die Wirrnis. Sie hatte sie gefunden, die Metapher, die die Menschen menschlich machen würde. Die Bedingtheit hätte ein Ende und Meggy würde willkommen sein. Einige wollen ihr einen Rotwein ausgeben, aber sie lehnt ab.
–Das braucht ihr nicht, denn es gibt kein Geld mehr und keine Ungerechtigkeit! Wir können haben, was wir wollen, und geben, was wir haben, wir können eine halbe Flasche Rotwein trinken und mehr, wir können die Botschaft verbreiten, sie in die Welt bohren und das Sonnensystem an ihr drehen!
Mit diesen Sätzen würde sie die Party verlassen, alle würden weinen vor Freude. Echte, tiefe Tränen. Und es wäre das erste Mal seit dem Tod ihres Vaters, dass sie normal mit ihrer Mutter redete. Kleine Fältchen an der Nase.
–Mutter. Mutter ich weiß es jetzt. Ich weiß jetzt, wie man es aushält, das Alleinsein. Es ist ganz einfach.
Wird sie belächelt? Meggy räuspert sich. Einen Schluck Wasser. Man starrt sie an, halb amüsiert, halb uninteressiert. Während die Asymmetrie zugenommen hat, zwei halbe Menschen ist sie, ein siamesischer Zwilling, aus dessen rechter Kopfhälfte sich eine linke erbricht. Sie setzt zur Sprache an, aufgeregter als sie dachte. Sie verstottert den ersten Satz. Hat da gerade jemand gekichert? Sie setzt ein zweites Mal an.
–Mitschüler und Schülerinnen, liebe, liebe Eltern, liebe Lehrer der High & Low High School. Es ist mir eine Ehre, hier so frei vor Ihnen, also vor Euch, sprechen zu dürfen. Ich weiß, dass es die Regeln einer solchen Rede abverlangen, mit einer kleinen didaktischen Parabel zu beginnen, oder mit einem Bonmot oder einer Anekdote aus der Schulzeit, doch lieber möchte ich mir die Worte des deutschen Schnapsbrenners Müller leihen, welcher einmal in einem Brief, den er von Eppendorf nach Wittenberge geschrieben hat, behauptete, dass Optimismus nur ein Mangel an Informationen sei. Und wenn ich in die glücklichen Gesichter schaue, mich an dem Vergnügen und der Ausgeglichenheit ergötze, die mir an diesem Abend in derartiger Abartigkeit entgegnet worden sind, dass es mich schütteln sollte, dann kann ich lediglich schmunzeln. Natürlich kam der Brief des Schnapsbrenners nie an, er wurde konfisziert und eingeäschert. Ebenso der Schnapsbrenner.
Ein Raunen, ein Misstrauen, verarbeitend, ratternd, Muskeln, die sich unter Gewaltfantasien kontrahieren. Langsam ebbt die Aufregung ab, eine Rhetorik flutet sich durch Meggys Schädel zu den Stimmbändern, eine leicht selbstherrliche Rhetorik, die sich zu fein ist für den Dialog, die aus sich selbst den Monolog erzwingt, das Diktieren, das Traktat, die Schrift. Sie lässt eine Pause, fährt über ihre salzigen Lippen, fährt fort.
–Wenn ich euch jedoch eines wünschen kann, dann, dass ihr die Ausgeglichenheit aus euren Leben verbannt und allesamt Quallen werdet. Denn die Quallen sind es, die den Ozeanen ihre Wellen schenken, durch den Krampf, den sie jeden Tag aufs Neue kämpfen und der ihre gesamte Existenz bedeutet.
Vielleicht gibt es Augen, die die vielen kleinen dünnen Fäden sehen können, die an den Gelenken der Schüler befestigt sind, wie sie in bestimmten Winkeln das Licht der Scheinwerfer reflektieren, und wie an ihnen gezogen wird. Wie sie die Gliedmaßen ruckartig nach vorne reißen. Wie ein ganzer Jahrgang, geschlossen, unter den stummen Blicken des Lehrkörpers, auf die Einzelne zugeht. Wie die Marionetten in ihrer Einigkeit, der einen gleichen Bewegung, das Kasperle zerstören. Wie sie ihr die Notizen aus der Hand schlagen. Wie sie ihr die Brille aus dem Gesicht treten. Wie sie sie in einen Spind sperren. Kurzerhand wiederholt man die Wahl. Und keinen überrascht, dass Nataly gewinnt. Alle sind gerade verdammt glücklich. Der Blick ins Publikum, auch wenn das Diademchen ein wenig zwickt im Korpus aus drapiertem Haar, und das Werfen der Küsse, wobei vor allem Miranda keine fängt, denn sie ist nicht gekommen. Die Königin schlägt vor, dass sie, bevor sie jetzt mit dem Reden beginnt, lieber eine Minute schweigt, um der Toten, aber speziell des Toten zu gedenken, welcher heute Abend hätte hier sein können, aber nicht ist, da er vom Vollstricker umgebracht wurde.
–Benjamin MacNash, ich denke an Benjamin MacNash, und an dieweiten Felder außerhalb der Stadt, und wie wir dalagen, und über uns war nichts als blaues All. Grillen, wie sie schreien und lange Schatten werfen. Ich denke an Benjamin MacNash und möchte ihm diesen ersten Tanz schenken.
Sie hält die linke Hand hoch, einem Geist zum Geleit. Lässt sich führen, scheinbar von den Bewegungen des Suchscheinwerfers, doch der Suchscheinwerfer verfolgt die Bewegungen des Scheins. Das Geräusch des Leders auf Laminat, wie es schleicht und tappst. Der Stoff ihres Kleides, der sich an nichts reibt, und doch an ihren Körper gedrückt wird. Die große Hand, die auf ihrem Schulterblatt liegt, der Griff, der eine feuchte Wärme hinterlässt. Der immer fester werdende Griff, der sie packt an der Hand, der einst milde, nun kalte, erbitterte, der sie zwingt, sie über die Tanzfläche reißt, herumwirbeld, schleift, der Griff, der sich ihre Gurgel packt und wegweht. Nataly liegt da, ihr Vater hilft ihr auf.
–Bist du gestolpert, Kleines? Du sahst ganz ergriffen aus.
–Ja, Vater.
–Darf ich bitten?
Tanzpaare gesellen sich zu ihnen. Einige haben ihre Köpfe auf den Schultern der anderen abgelegt. Die, die immer noch baumhaft an der Wand stehen und zugucken, werden heute Nacht wieder und wieder masturbieren, um danach die perfekte Einsamkeit zu spüren. Als alles aus ist, und die Eltern sich verabschieden und den Kindern noch einmal erlauben, Kind zu sein, ziehen sie sich die hochhackigen Schuhe und die Hemden aus. Die Kinder rennen über das Baseballfeld. Die baren Füße graben sich in den Rasen, kalt und klamm und heiß. Ein letztes Mal werfen sie den steilen Pass über das Feld oder lassen sich einfach liegen. Sie klauen sich das Mädchen. Sie rauben sich den Jungen. Sie treffen sich unter den Tribünen und lassen Scherben zurück. Sie spüren die Muskeln und die Teilchen der Haut, wie sie sich von ihren Armen lösen. Sie werden sich an nichts erinnern.
Bobby sitzt in seinem Archiv und schreibt. Meggy liegt neben ihm und beobachtet seine Bewegungen. Sie liegt auf der kleinen Couch, die sich Bobby ins Zimmer gestellt hat, falls er es nicht mehr nach Hause schafft. Eine der Armlehnen ist abgebrochen, sodass man die Füße besser ausstrecken kann. Der Bezug ist schwarz mit gelben und lila Blüten drauf. An den Rändern von Meggys Nasenlöchern ist eine bräunliche Kruste. Manchmal wäre sie gerne eine Astronautin.
–Ja, ich will eine Astronautin sein.
–Ohne Abfall keine Unterhaltung. Ohne die, die versagen, keine Gewinner. Ohne die Masse der Mittelmäßigkeit keine Ausnahmen. Ohne das Schlechte, das Herkömmliche, das Normale, das Graue, da Okaye, das Nicken, das Schweigen, das Zuhören, das Verstehen, das Eingehen, das Abwägen, das Warten, das Aufschieben und das Wiederholen, das Feige, das Gestohlene, das Behaltene, das Erinnerte, das Eingeweichte, das Erhaltene, das Liebe, das Nette, das Fürsorgliche, das Rücksichtsvolle, das Behäbige und das Gemütliche, das Schwache, das Zivilisierte und alles andere irgendwie geartet verkrüppelt Mitfühlende, gäbe es keine Kunst. Denn die Kunst ist das Auslöschen.
Meggy kann weder folgen noch zustimmen.
–Seit wann bist du denn Künstler, Bobby, und danke, dass du mich aus dem Spind befreit hast.
–Keine Ursache. Und ich sage gar nicht, dass ich Künstler bin, ich bin Wissenschaftler. Und eigentlich gibt es zwischen den beiden Berufen keinen Unterschied. Nur, dass sich die Wissenschaftler weniger für das schämen, was sie tun. Hätte man einem Da Vinci erzählt, dass man ihn heutzutage Künstler nennt, er würde auf einen Marmorboden spucken.
–Ich habe gehört, dass Michelangelo als äußerst dumm galt und viel geflucht hat. Im Übrigen hatte ich recht, denn bei dem nebulösen Gegenstand vom Tatort hat es sich nicht um den Motor einer Zeitmaschine gehandelt.
–Sondern?
–Um den Motor einer Raummaschine.
–Und woher weißt du das?
–Der wütende Rothaarige und das einäugige Mädchen haben mich bedroht und ein bisschen gefoltert und daraufhin habe ich ihnen den Nautiker zurückgegeben.
–Den –?
–Nautiker.
–So hieß das Gerät also.
Bobby nimmt sich einen Keks und bietet Meggy keinen an.
–Und was schließen wir daraus?
–Der wütende Rothaarige und das einäugige Mädchen sind aus einem anderen Raum hierher gereist, um beispielsweise unter die Leute zu kommen oder einen Kult zu etablieren, in dem man um einen Feuerball tanzen muss, etwa als Sinnbild für die Sonne oder den Erdkern oder beides oder vielmehr die Ähnlichkeiten der beiden. Aber bei ihrer Ankunft in Beetaville sind sie Benjamin über den Weg gelaufen, der ihre geheimnisvoll anmutende Maschine gesehen hat und somit eine Gefahr für ihre Identität darstellte. Wenn man dort, wo sie herkommen, überhaupt so etwas hat, wie eine Identität. Also nehmen sie ihm das Leben, aber da es in dem Raum, aus dem sie kommen, Sitte ist, die Toten nicht zu begraben, sondern an Zäune zu häkeln, tun sie es, ohne weiter darüber nachzudenken. Natürlich wäre es für ihre Zwecke sinnstiftender gewesen, ihn einfach verschwinden zu lassen, am Einfachsten mit beispielsweise ihrer Raummaschine, aber der Gedanke kam ihnen nicht. Wahrscheinlich wollten sie ihm einfach etwas wie die letzte Ehre erweisen. Ich finde nicht, dass man ihnen das zum Vorwurf machen sollte. Was konnten sie dafür, dass er zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort war? Sie nähen ihn also in den Zaun, doch verlieren dabei den Nautiker, was ihnen, einäugig und wütend wie sie eben sind, erst am späten Abend auffällt. Als sie zurückkommen zum Tatort, ist dieser bereits von der Polizei abgesperrt und wird bewacht. Sie sind Gefangene, denn von nun an wissen sie nicht mehr, wie sie nach Hause kommen oder den Nautiker zurückbekommen sollen. Nicht, dass sie wüssten, wo er ist. Sie hoffen, dass ein neugieriger Schüler der Finder dieses so wichtigen Gegenstands ist, und nicht etwa die Polizei. Deshalb nehmen sie Nebenjobs als Mensagehilfen an und beobachten und warten und warten, bis aber nichts passiert. Niemand holt den Nautiker zufällig aus dem Rucksack, niemand zeigt ihn seinen Freunden bei einer Portion Gemüselasagne. Dann wird das Pärchen aus dem Wald hingerichtet. Verzweiflung. Panik. Denn sie wissen, dass der Nautiker für Unwissende erst mal einfach ein Knäuel ist und kein unverwerteter Hinweis in einem Mordfall. Der Nautiker, nehmen sie an, ist in einem Polizeiarchiv verschwunden. Die Aufmerksamkeit darf nicht abnehmen. Sie müssen erneut morden. Doch wen als Opfer wählen? Der Gerechtigkeit halber sollte es dieses Mal weiblich sein und auch niemand aus der gleichen Jahrgangsstufe wie Benjamin, da das schlecht für die Generation wäre. Also suchen sie ein jüngeres Mädchen, und um es dramatisch aufzuladen, legen sie die wahllose Spur zum Debattierklub. Chesley stirbt und es tritt ein, was sie wollten. Agent Donna kommt in die Stadt und der Fall bekommt die größtmögliche Beachtung und schließlich, nach so langem Warten, sehen sie ihn endlich wieder, wenn auch nur auf einem Zettel an einer Wand. Das Bild des Nautikers. Auf der Suchschrift, die ich damals auf deinen Rat hin gemalt hatte. Der Rest ging schnell. Sie haben mich aufgespürt, gefunden und mir den Nautiker abgenommen, woraufhin sie sofort zurück sind, in ihren eigenen Raum.
–Du meinst also, das Morden wird ein Ende nehmen?
–Kein Plan, vielleicht hatten sie auch nichts damit zu tun.
Endlich gibt es wieder einen Grund für Emily und Nataly, miteinander zu reden, schließlich wurde sie zur Prom Königin gewählt. Überhaupt sind es gute Tage, immerhin hat sie eine schmeichelhafte Zensur für ein Chemieprojekt bekommen, und außerdem muss sie sich ihr Zimmer nicht mehr mit der Schwester teilen, da diese nun auszieht. Damit ist sie die älteste Tochter im Haus, was heißt, dass sie heimkommen darf, wann immer sie will. Am Wochenende sogar nach Mitternacht. Endlich wird sie die Möglichkeit haben, nachts auf die Jagd zu gehen, an schlafenden Wildpferden das Schießen auf die Nüstern zu trainieren, und ihre Augen können sich an die Dunkelheit gewöhnen. Endlich die alten Poster von den Wänden reißen. Und die Kisten unterm Bett wegschmeißen. All die alten Erinnerungen, Zettelchen und Urkunden, Tuschzeichnungen in Makkaroni gerahmt, Staub, Postkarten, Fotos. Alte Fotos. Fotos von einer Hochhausfassade, in der sich ein Schwarm Schwalben spiegelt, Fotos von Benjamin, in seinem Rücken die makellose Erde, vom Feld, den Steinen und dem Wald, wie man auf einem Holzscheit sitzt, von den Haaren im Wasser, den Haaren unter Mützen, Händen im Sand, im Schnee, in Schuhen, von Früchten, vom Himmel, diesem Dreckshimmel, dem Gewaltigen, vom Lachen und vom Lächeln. Manche unabsichtlich geschossen, unscharf, fast schwarz, hier und da ein Licht oder ein Auge. Die fremden Gesichter der Freunde, unheimlich im Stillstand, leblos, hohl und amüsant. Fotos von den Farben. Da ist das eine Foto, auf dem Emily und Nataly einen frisch gefangenen Fisch hochhalten. Beide tragen sie Gummistiefel und Latzhosen, einen gelben Hut und einen grauen, der Tag ging langsam zu Ende. Und wie stolz sie waren, immerhin, sie hatten eine Bachforelle gefangen, ganz ohne Hilfe. Kurz nach der Aufnahme haben sie sie zurück ins Wasser geworfen. Wer die Aufnahme gemacht hat, das weiß Emily nicht mehr, aber es war ein schöner Tag. Ein wirklich schöner Tag war es.
–Meinst du dem Fisch tut sein Maul jetzt weh?
–Vielleicht ein bisschen.
–Tut es dir leid?
–Nein. Dir?
–Nein.
–Ich möchte ein taktischer Sprengkopf sein, der durch sieben Meter Stahlbeton schlägt, bevor er detoniert.
Hollys Augen leuchten, ihr Ausschnitt ist rosa gefleckt, sie aufgeregt, fordernd. Ein wenig schaut sie aus wie Richard Ramírez, der immer noch auf seine Hinrichtung wartet. Der dasitzt und wartet, dass sich die Türen öffnen, der auf sein letztes Mahl wartet, welches er nicht hinunterbekommen wird, der in einer ganzen schrecklichen Nacht einem Priester von all dem Horror berichten wird, der in seinem Schädel herrscht und wütet, bevor das Gift seinen Körper hart macht. Die einzige und letzte, die wirkliche Ruhe, hofft er, warten in den 15 Milliliter Kaliumchlorid. So sitzt sie da und das Zugeständnis reicht der australischen Stuntmanvermittlungsfirma, auf deren Zusage Holly hofft, aus.
–Ein taktischer Sprengkörper also.
–Kopf, Sprengkopf meine ich, also Gefechtskopf. So gesehen könnte man auch Sprengkörper sagen, aber meinen meine ich natürlich Gefechtskopf.
–Ist gut, Miss –?
–Cello, Holly Cello.
–Miss Cello. Es gibt da gerade eine Anfrage, da werden wir Sie weiterleiten.
Schon als kleines Mädchen hatte Holly davon geträumt, Stuntman zu werden. Damals sprang sie von der Garage auf den Zaun und brach sich einen Eckzahn rund. Angefragt hatte jemand von Miramax Films für die Produktion Love Serenade, dem zweiten selbstgeschriebenen Film von Shirley Barrett. Holly soll dabei von einem Kornsilo fallen, in einer trägen, lebensverneinenden Fallart, etwa wie es ein mittelalter Mann tun würde. Es sind Sommerferien, warum nicht?
Jeff ist zu sehr davon eingenommen, sportlich aktiv zu sein und Gespräche mit Donna zu führen, bei denen es eigentlich nicht um viel mehr geht als die Frage, wer von beiden am meisten rauchen kann, als dass er seiner frisch Vermählten das Stuntmantum ausreden könnte. Als Holly ihn fragt, warum er so viel raucht, denn er hustet mitunter tiefschwarze, kratzige Bällchen beim Zähneputzen aus, da antwortet Jeff.
–Zigaretten haben das perfekte Design. Schau dir Filme an, schau dir alte Bilder an, schon die ersten Zigaretten sahen aus, wie sie es jetzt tun. Die Zigarette ist die letzte große Erfindung der Menschheit, nach Brot, Münze und Rad. Es war sofort klar, wie sie aussehen musste, es gab ein immanentes Geheimnis, eine perfekte Frage, auf die man nur die perfekte Antwort geben kann. Es gibt in der Natur nichts Vergleichbares, kein Wesen, kein Gestein, kein Wetter, kein Ding, welches es in seiner Erscheinung mit der Grazie und der Ganzheit einer Zigarette aufnehmen könnte.
Zwei Jahre zuvor. Shirley Barrett sitzt mit einem Freund am Küchentisch, sie reden davon, wie sie als Kinder oft den ganzen Sommer lang nichts anderes getan hätten, als auf die riesigen Kornsilos zu klettern, dass es in der kleinen Stadt, aus der sie kommen, keine andere Form der Beschäftigung gab. Der Freund erzählt, wie er einmal geglaubt hatte, im Fernen, aus einem Augenwinkel heraus zu sehen, wie ein Mensch von solch einem Silo fällt.
–Ein kleiner schwarzer Punkt, der sich langsam von oben nach unten bewegt und dann verschwindet.
Shirley hört bloß noch halb zu, in Gedanken schreibt sie ihr Drehbuch zu Ende.
–Was hast du gerade gesagt?
–Einmal habe ich gesehen, wie jemand von so einem Silo gefallen ist.
–Ein Mord? Ein Unfall?
–Ich weiß es nicht. Es stand nichts in der Zeitung.
Das ist es. Die Lösung. Die finale Wendung. Nur so können die beiden Heldinnen ihrer Erzählung entfliehen. Der große Sturz, die Befreiung vom Tyrannen, 25 Meter in die Tiefe mit ihm. Es würde wie ein Unfall aussehen. Und so geschieht es und es ist Hollys erster großer Stunt. Die Höhe macht ihr keine Angst, aber ein schlechtes Gefühl hat sie, der Kaffee war miserabel, überhaupt das ganze Catering. Nicht, dass sie sich mit Catering auskennen würde, aber man erkennt ein schlechtes Catering, wenn man eines isst. Und jetzt steht sie da oben und will einfach nur erbrechen. Klar, die Beleuchtung lässt schon wieder auf sich warten. Sie hätte die Anchovis nicht essen sollen. Es ist jedes Mal dasselbe mit diesen Pissanchovis. Nie darf man die essen. Alles frustriert Holly. Alles. Dass dieses Klischee wahr sein muss, das ist doch ein Scheiß. Sie erbricht sich in die Handflächen und ihren Stuntmananzug. Bei ihrem ersten Job. Ausgerechnet bei ihrem ersten Job, ausgerechnet beim Beginn der Erfüllung ihres Kindheitstraums muss sie sich in den Stuntmananzug brechen. Die Jungs von der Beleuchtung, jetzt waren sie natürlich da, die flüstern sich finstere Gemeinheiten ins Ohr, denken, Holly hätte Angst bekommen. Wie gerne würde sie sie mit ihrer Kotze besudeln, sie vollkommen wegkotzen, diese Lästerbeleuchter, aber sie traut sich nicht, oder ist zu höflich. Ihr ist viel zu schlecht von den Anchovis. Wütend, zitternd, schwach zieht sie sich den verschmierten Anzug aus, steht da im Unterhemd und hat Probleme mit ihrem linken Hosenbein, kommt da schlicht nicht raus. Das wars. Für den Rest ihres Lebens ist sie in diesem Hosenbein gefangen. Und es ist so heiß, die Kotze fasert, wird hart, dann viskos. Irgendwas. Klebt am Fußknöchel, ist bis in die leichten Turnschuhe gesickert. Bis in die Turnschuhe? Was waren denn das für Anchovis. Pissfische, gleich ausrotten, gleich das ganze Meer wegrotten, soll die Welt eine Wüste werden, was solls, solange sie nicht so schäbig und unberechenbar ist wie das Drecksmeer, ist alles recht. Sie hüpft hin und her. Immer noch oben auf dem Gerüst. Und wie possierlich sie aussieht in dieser Lebensgefahr, in die sie sich getorkelt hat, so hoch oben am Fluchen. Nicht nur die Beleuchter, die gesamte Crew, von den Caterern bis zur Kamerafrau, selbst Miranda Otto, alle lachen sie sie aus. Einige, die einfach keine besonders fröhlichen Leute sind, schmunzeln bloß. Ein Kollege kommt zu ihr, schneidet ihr das Hosenbein auf und kümmert sich nett.
–Hör nicht darauf, lass sie lachen, das passiert allen, und mir ziehts auch im Magen, aber ich wette, du hast die Anchovis gegessen, stimmts?
–Stimmt.
–Die Anchovis sind das Letzte, ich weiß. Komm, ist egal. Ich mach den Sprung. Shirley hat mich eingewiesen, wir testen jetzt mal kurz, und dann geht es nämlich weiter mit dem Dreh, dann braucht keiner mehr warten und heute Abend, da trinken wir ein Bier, ja? Und dann ist alles vergessen.
–Auch einen Schnaps?
–Auch einen Schnaps.
–Danke.
–Wie heißt du eigentlich?
–Holly. Und du?
–Wie –?
sagt er, langsam vom Silo fallend.
–Wie du heißt!
–Meine Freunde nennen mich –
Da das Luftkissen defekt ist, bricht er sich Teile des Unterarms, des Nackens und einige Rippen, stirbt. Shirley ruft das Team zusammen. Gemeinsam schauen sie sich das Filmmaterial an. Die letzten Sekunden im Leben von Collin Dragsbaek. Shirley weiß, dass es das Schönste ist, was sie je gesehen hat, und alle Crewmitglieder müssen weinen, und Shirley sagt
–Ihm, ihm werden wir den Film widmen. Er hat unsere Leben für einen Moment heile gemacht.
Wie sich der Tod eines Menschen, diese eigenartige Letztwahrheit und Endgültigkeitsunappetitlichkeit, der Fetisch überhaupt, das Faszinosum am Leben überhaupt, das schöpferische Paradox, welches Sekunde um Jahrhundert durch die Menschheit jagt, roh und fleischeslustig, schließlich doch einfach in irgendein weiteres Bild verwandelt. In irgendetwas Optisches. Wie sich alles auf Sinneseindrücke runterrechnen lässt. Diesem Gefühl kann Holly nicht anders begegnen als mit einer umgreifenden, die Kapillargefäße ertränkenden Freude und Demut. Sie liegt in ihrem Hotelbett, neben ihr ein Eimer. Sie verspürt den unbedingten Wunsch, in die Weltgeschichte einzugehen, und muss ab und an würgen. Aus einer frischen Flugangst heraus fährt sie mit einer Fähre zurück nach Neuengland. Während der dreiwöchigen Fahrt verliebt sie sich in zwei Frauen und einen Mann, lässt sich die Haare abrasieren und beginnt damit, Dinge zu notieren. Erst kleinere Sätze und ausgeborgte Wörter, dann Szenen, vor allem Nachtszenen und nautische Beobachtungen. Es fliegen Tausende von Zetteln in ihrer Kajüte herum, auf welchen sich weitere und weitere Umschreibungen des Meeres befinden. Sie steht bis zu den Knien in Zetteln. Es entstehen erste Fragmente, Miniaturen und Kurzgeschichten, eine, von welcher Holly sogar sagen würde, dass sie, abgesehen vom Titel und einer teilweise recht umständlichen, unnötig verschachtelten Spreche, recht gelungen ist. In dieser Geschichte befindet sich ein Ich-Erzähler auf einer Kreuzfahrt von Hamburg nach Hammerfest, von der schnell klarwird, dass es sich in echt um die Reise vom Leben in den Tod handelt. Das gesamte Bordpersonal besteht nämlich aus Geistern, welche die Ursache aller Angst und Unruhe repräsentieren. Der Ich-Erzähler allerdings bleibt die ganze Zeit über kühl und distanziert. Er scheint moralisch verdorben, was Holly reizvoll findet, denn ein wenig ist sie es auch und es gibt interessante Doppelungen zwischen ihrem Erleben und dem Erleben des Ich-Erzählers. Sie hat sich angewöhnt, kaum mehr als drei Stunden Schlaf zu brauchen, und als sie ein Barkeeper in seiner Müdigkeit und Verzweiflung fragt, ob er die Bar nicht langsam schließen könne, muss sie laut auflachen. Er wird doch monatlich bezahlt, bekommt Pauschale und muss dableiben, bis der letzte Gast geht.
–Oder nicht?
Aber als die Sonne schon wieder durch die Luke scheint, und die nächste Schicht beginnt in nicht mal zwei Stunden, da fragt der Barkeeper, ob es nicht langsam genug wäre, auch für sie, das würde dem Respekt, den sie sich hier ertrunken hätte, und das hätte sie sich, ganz sicher, sicherlich keinen Abbruch tun. Und Holly merkt, im Umherblicken, dass sie wieder alleine dasitzt, das Gespräch mit sich selbst geführt hat, wenn da überhaupt eins war, ein Gespräch, und schaut dem Barkeeper ins Gesicht, nimmt ihren Zeigefinger, nickt freundlich, und zeigt damit in das leere Glas vor ihr.
–Fehlt da nicht was? Genau. Danke.
Schütten, Schreiben, Weltruhm.
In der geöffneten Haustür steht Jeff und wartet auf seine Frau. Holly schlürft, trottet eher, als dass sie schlendert, in seine Arme.
–Meinst du, ich sollte mehr Hemden tragen? Bin ich alt genug dafür, nur noch Hemden zu tragen? Ach, wie war eigentlich Australien?
Holly ist froh und fühlt dampfend über sich die Bügeleisenstadt, wie sie über ihre Gefühle saust, alles glatt macht und faltenfrei.
Donna redet ein letztes Mal mit Nataly.
–Was wollen Sie denn noch von mir? Was Sie über Benjamin wissenwollen, das wissen Sie über Benjamin, und viel mehr weiß ich nicht. Wir waren ein Paar, wir waren glücklich, wir waren traurig, wir waren wie eins, jung, klar dumm, egal, kindisch, unsere Zungen haben sich berührt im Kettenkarussell, im Laserdome lagen wir dösend da, oder den lieben langen Tag im Bett herum, zu zweit, im Sommer, im Schatten des Kinderzimmers, ohne ein Wort miteinander reden zu müssen, als alles frei war und die Sonne den Idioten die Körperritzen vollgestopft hat mit irgendeinem Dopamin, und hatten eine gute Zeit.
Donna schlägt sein überkreuztes Bein von rechts nach links. Sie sitzen nebeneinander auf einer Bank vor der Kirche. Er trägt Hut, der ein bisschen schräg sitzt. Seine Arme sind verschränkt und sein Blick starr geradeaus. Nataly trägt hochgestecktes Haar und Ohrringe. Es ist ihr zu heiß unter dem Jäckchen, aber es steht ihr ausgezeichnet. Ein klarer Schnitt, schwarz, mit weißem Spitzenrelief. Sie wirkt müde, aber müde wie jemand, der es nicht gewohnt ist, müde zu sein, definitiv nicht so müde, wie sie es gerade ist. Donna hat ihr einen Kaffee spendiert.
–Also, was wollen Sie noch von mir.
–Kannten sich Jeff Cello und Benjamin?
–Ja, ich denke schon, was weiß ich. Nein, er hatte ihn nie als Schüler.
–Könnten Sie sich denn vorstellen, dass –
–Mister Cello? Niemals.
–Was macht Sie da so sicher?
–Nichts.
–Vielleicht war er es auch.
–Aber warum?
–Das fragen Sie mich?
–Ja.
–Also das geht nicht.
–Achso.
–Vermissen Sie ihn denn?
–Benjamin?
–Natürlich.
Sie stockt, der Kaffeebecher in ihrer Hand zittert. Sie stellt ihn ab. Sie schaut Agent Donna so lange an, bis er den Blick endlich erwidert. Die Glaskörper fahl, aschweich, khakifarbene Tränen in den Augenwinkeln.
–Ich weiß nicht mehr, wie er ausgesehen hat, wie er gesprochen hat, wie er gerochen hat, was er mochte, was er nicht mochte. Leute zeigen mir Fotos von uns beiden und ich denke, was ist das für ein Ding neben mir. Wer ist das? Ich weiß gar nichts mehr. Was ist in den letzten Wochen mit mir passiert. Ich liege bei Miranda in der Wohnung, wir trinken grünen Tee, den ganzen Tag trinken wir nur grünen Tee und ich habe keine Kraft mehr zu nichts. Das Buch über Dinosaurier, jeden Tag probiere ich es von Neuem zu lesen, aber die Wörter ergeben keinen Sinn. Wenn ich Ihnen sagen würde, dass die Hölle ein ruhiger Ort ist, ein langsamer Nachmittag, würden Sie mir glauben? Selbstverständlich nicht. Wie könnten Sie auch.
–Kommen Sie, wir gehen ins Diner.
–Aber ich habe keinen Hunger.
Donna bestellt sich einen Kichererbsenbratling und Nataly berichtet von Meggy und wie leid es ihr tut, was aus ihr geworden ist, dass sie gute Freundinnen waren. Einmal, es fällt Donna gar nicht auf, da legt er seine Hand auf die von Nataly und Nataly, es fällt ihr gar nicht auf, gefällt es.
–Ich habe das Gefühl, ich kann Ihnen alles erzählen.
Donna verspricht, dass Meggy nicht böse ist, dass Meggy kein nachtragender Mensch ist, und er denkt dabei an das nackte Gesicht ihrer Mutter. Er war sogar ein bisschen traurig, als er gehört hatte, dass sie für eine Weile im Ausland sein wird. Bei der Verabschiedung umarmen sie sich. Sie umarmen sich länger als vier Sekunden, was immer bedeutet, dass das gerade eine spezielle Umarmung ist. Und Donna duzt Nataly zum Abschied, obwohl das im Englischen nicht üblich ist.
Meggy kann nicht hinnehmen, dass sie beim Schach täglich gegen ihre Mutter verliert. Es ist das Ritual der beiden geworden, gemeinsam Schach zu spielen und drei Runden weiterer Brettspiele. Meggys Mutter hingegen ärgert sich über das ausgeglichene Gewinner-Verlierer-Verhältnis beim Backgammon. Es ist ihr zu sehr eine Glückssache und sie will lieber noch eine Runde Schach spielen, bedenkt dabei, ob sie mit der halbslawischen Verteidigung oder Albins Gegengambit eröffnen soll. Einmal waren sie kurz vor einem Remis, doch dann hat Meggy vor lauter Aufregung den Läufer auf D4 übersehen und ihre Dame ist in eine fast echte Fesselung geraten, woraus eine echte Fesselung des Königs und das Matt folgten. Das Verhältnis der beiden hat sich verbessert, seitdem die Mutter im Kellerverließ ist. Sie haben einen lockeren Ton miteinander gefunden und manchmal bringt Meggy ihrer Mutter sogar eine halbe Flasche Rotwein. Sie verlangt kaum noch, freigelassen zu werden.
Es ist der Tag des Davonlaufens. Nataly schließt die Tür, zieht sie vor sich zu, mit beiden Händen am konkaven Knauf, rückwärts aus der Vergangenheit schleichend, demütig und müde. Die Wände beben, sind zerstreut und verlieren das Gleichgewicht. Eine Unruhe hat das Haus der Familie Hay erfasst. Mit leichter Irritation begegnet das Interieur dem Verschwinden der ältesten Tochter. Es fällt ein Bild hinunter von der Tapete und ein Besteck verknotet sich im Besteckkasten, ein Rahmen knackst, ein Sessel kippt, eine Glasscheibe adert. Und als das Schloss dann einrastet und die Hände den Knauf nicht mehr berühren, da blickt der Rucksack auf Natalys Rücken dem Haus hämisch entgegen, denn der Rucksack bleibt, er bleibt bei dem Mädchen, er wird mit ihr gehen, an ihr, so nah es geht an ihren Rücken geschnallt, und ein fassungsloses Entsetzen geht durch das Haus. Der Stuhl, auf dem der Rucksack immer lag, schmeißt sich zu Boden und bricht sich die Beine.
–Wo geht sie hin? Wo geht sie hin? Was will sie denn?
Sie fragen den Knauf, schreien ihn an, verfluchen ihn für die Schockstarre, die seine Sprachlosigkeit bedingt. Die Standuhr schlägt sich selbst ins Ziffernblatt, mit aller Kraft, sie hält es nicht aus, will einen anderen Schmerz fühlen, einfach einen äußeren, einen einfachen, schönen klaren Schmerz, den Schmerz einer Stichwunde, der einen dumm macht und leer, nicht die Qualen, die sie in ihrem Innersten ertragen muss, die brennen, die die schwingenden und rotierenden Pendel zu Mordwerkzeugen machen. Denn eine Standuhr erträgt den Verlust nicht, ist nicht darauf vorbereitet, die Menschen um sie herum zu verlieren, und sie will läuten, neunundvierzig Mal, bloß für Nataly, neunundvierzig Mal, und danach nie wieder, Natalys Lieblingszahl, seit ihrem siebten Geburtstag schon, das war immer die Neunundvierzig, doch ist sie gefangen in ihrer Mechanik und tickt und gibt eine Sekunde wieder und tickt und gibt eine Sekunde wieder und tickt und schlägt zur halben Stunde einen kalten Aufschrei gegen die Zeit, die ihr Herr und Sklave ist. Nataly steht allein da am Busbahnhof. In ihrem Rucksack ist ein Lederkoffer, ein Lehrbuch für Epistemologie, frische Unterwäsche und ein Sandwich mit Ei. Nur Emily ist mit ihr gekommen, niemand anders konnte es einrichten. Ihre Eltern erst recht nicht. Auch Donna nicht. Warum auch, warum sollte Donna auch kommen und ihr Auf Wiedersehen sagen. Weil er es ihr versprochen hatte, irgendwann zwischen zwei Bissen? Nein. Donna war weder ein Mann, der sein Wort hält, noch einer, der anderen Gutes tut. Emily hält ihrer Schwester Hand, drückt fest, lässt sie dann in den Bus steigen und bekommt ein letztes Strubbeln durchs Haar. Aus dem Fenster des Greyhounds heraus. Aber sie wird gestrubbelt, wie eine Erwachsene gestrubbelt werden würde. Emily schaut dabei auf ihre Füße. Ein Haar löst sich aus ihrer Kopfhaut und fällt zu Boden. Nun liegt es da, wird weggeweht, weht dem davonziehenden, silbernen Bus hinterher. Warum heißt es nicht Silverhound? Oder einfach Silverbus? Warum heißen die Dinge nicht so, wie sie aussehen. Oder warum heißen die Dinge nicht so, wie sie sind? Warum heißt Nataly nicht einfach die, die sich verpisst hat?
Lenny war bereits vor ein paar Tagen nach Grönland geflogen. Er hatte eine Postkarte von Joseph bekommen, in welcher dieser kundtat, dass er die Anstrengungen seines einstmals guten Freundes und Wegbegleiters, ein Forscher zu werden, zum Brüllen traurig findet. Und dass er damit beginnen wird, sich öffentlich über ihn lustig zu machen, auch weil das die Preise der Erstpressungen der Heinrich Fun LP in die Höhe treibe und er noch einige davon besäße. Auf der Rückseite der Postkarte ist eine Wassermelone mit Sonnenbrille, kein Spruch, keine Erklärung, keine Pointe. Als würde es reichen, einer Wassermelone eine Sonnenbrille aufzusetzen, um ein Postkartenmotiv zu sein. Joseph hatte es derart aufgeregt, dass er in einem Land lebt, in der Postkartenmotive keinen kleinen Dreck mehr wert sind, dass er alle davon gekauft hat. Wut wegkaufen, das mochte er. Auf jeden Fall stellt sich Lenny das so vor, anders konnte er sich die Auswahl der Postkarte nicht erklären.
Miranda liegt allein in ihrer Einzimmerwohnung, neben dem Bett ein gepackter Koffer. Grün, Hartschale, der Koffer ihres Vaters. Man könnte ein hochseetaugliches Schiff aus ihm bauen, vielleicht ein U-Boot. Auf der Anrichte steht noch die Kanne mit vergiftetem grünen Tee. Kein Schluck wurde getrunken, kalt und still steht sie da und ein wenig ist es eine Schande, denn die Dosis war so fein gewesen, ein weiches Ausschalten aus Zuneigung und Flunitrazepam, eine Ode an das zentrale Nervensystem. Doch Nataly hat ihren grünen Tee nicht mehr trinken wollen, nicht, seitdem sie wusste, dass grüner Tee aus denselben Blättern hergestellt wird wie schwarzer Tee. So hatte sie es Miranda zumindest erklärt. War sie sich in Wirklichkeit der kleinen toxischen Aufmerksamkeiten bewusst geworden? War es Angst gewesen, die Art, wie sie mit der Zunge an Mirandas Ohrläppchen, Brustwarzen und Schamlippen spielte? Miranda war ein veränderter Druck aufgefallen, hätte aber nicht auf Furcht geschlossen, ganz im Gegenteil sogar, also es hatte ihr gefallen, das Zittern, genossen hatte sie es, wie sie sich zwischen ihren Beinen vergraben hatte, das ganze Gesicht verschmiert, die Zunge so tief, dass sie die Schneidezähne ihres Gegenübers auf dem Schambein fühlte.
–Beißt du bitte gerade in meinen Kitzler?
Das Schlucken, die Gurgel. Und wie klitschnass sie war. Oder waren das Natalys Tränen? Die Angst davor, die Liebste zu verlassen, ihr das Schlimmste anzutun, oder die Angst vor der Geliebten, die ihr das Schlimmste antun würde? Warum wollte sie den grünen Tee nicht trinken? Woher wusste sie es? Miranda wird diesen Bus nicht nehmen. Weil sie weiß, dass man nicht gemeinsam mit anderen Menschen reisen kann, dass es bloß Reisende und Hinterherreisende gibt, und wer hinterherreist, der kann vielleicht ein paar Fotos machen oder über die Gefühle und Beobachtungen des Reisenden reden, aber es wird unabdingbar der Moment kommen, da der Hinterherreisende im Stich gelassen wird. Etwa wenn der Hinterherreisende seinen Koffer auf dem Bahnsteig vergessen hat, und sie beide sitzen aber schon im Zugabteil.
–Mein Koffer!
wird der Hinterherreisende sagen und der Reisende
–Aber der Zug fährt gleich!
und der Hinterherreisende
–Aber ich brauche meinen Koffer!
Und der Hinterherreisende wird aus dem Zug hasten, an den letzten einsteigenden Gästen vorbei, im Gefühl, dass sie beide jetzt zusammen diesen Zug verlassen werden, und der Hinterherreisende wird die Sätze überhören, die der Reisende ihm zuruft.
–Wir treffen uns dann in Rom!
Und der Hinterherreisende wird allein mit seinem Koffer auf dem Bahnsteig stehen und er wird realisieren, dass es keine Mitreisenden gibt, sondern bloß Reisende und Hinterherreisende, und in Rom, da ist er allein. Und er raucht eine Zigarette und wird gebeten, sie auszumachen, weil es eine Nichtraucherkirche ist.
Donna wollte auf die Stadt stürzen, wie ein Regen oder ein Weltraumgewitter, den Gesetzen des Alls gleich, den Allgesetzen, und nichts als Ordnung hinterlassen. Das brennende Chaos mit seinen Stierhörnern zurück ins Meer verbannen. Doch der Boden von Beetaville ist moorig, geht tief nach unten, verschlingt das Wetter und bildet mächtige Bänke aus Sinter, Hohlräume gefüllt mit Tieren, die im Dunkeln sehen können, ohne Augen, nur mit ihren Zähnen, die wie Salzkristalle aus ihren zweitausend Mäulern ragen. Donna ist enttäuscht. Er findet und findet keine Anhaltspunkte, wer diese Morde begangen haben könnte. Es gibt nur eine Spur, und obwohl er diese guten Gewissens verfolgt, mit einer bürokratischen Hingabe, die ihresgleichen sucht, so weiß er doch, dass es eine rein bürokratische Beziehung ist, die er mit Jeff Cello führt. Aus Frustration, und weil ihn der anhaltende Schlafmangel angreift, geht er ins Solarium. Der Mann am Empfang schaut ihn etwas verblüfft an, doch Donna besteht auf einem Liegeplatz. Er findet, dass Solarium das schönste Wort der Welt ist. Ihm wird warm. Warm und vergesslich.
Miranda schaut auf den aufgeschlagenen Gedichtband neben ihr. Sie sieht die Kurven, die Steigungen und Stürze, die Mutationen und Morphismen. Die liebenswürdigen Buchstaben und die verlogenen, die verlorenen, die trüben und die vollkommenen, etwa ein W, welches auf ein N folgt, oder das ewige S, Ruhe und Gefahr, welches ein Flussbett für ein Wort sein kann, voll an wichtigen Nährstoffen, aber auch die Überdosis, exzessiv und übersäuernd. Auf ihrer elektronischen Schreibmaschine hat Miranda ein Gedicht für Nataly geschrieben. Das Schreiben auf einer Schreibmaschine ist Vorstellung und Applaus in einem. Jeder Anschlag ein Aufeinanderschlagen zweier begeisterter Handflächen. Das Doch. Nicht lesen. Nicht schreiben. Vitamine, ja. Wein wenn bitte vielleicht. Kerzen. Docht nicht. Ob ein strichvoller Aschenbecher der Qualität des Gedichts gerecht wird, das weiß Miranda nicht. Sie weiß nur, dass diese Worte am ehesten ihren Gefühlen entsprechen, und dass sie nicht in der Lage ist, sie anders zu formulieren. Sie klebt eine Briefmarke auf einen Umschlag. Steckt das Gedicht hinein. Und einen Teebeutel, einen Teebeutel der Teesorte, die Nataly ganz besonders an die Zeit erinnern soll, die sie gemeinsam verbrachten. Einen Teebeutel der Teesorte, der ganz besonders Natalys kleines Herz brechen soll, wenn sie an ihm riecht. Auf dem Briefumschlag steht Natalys neue Adresse. Miranda schrumpft. Vielleicht zwei Zentimeter. Außerdem ist ihre Schuhgröße eine Nummer zurückgegangen. Auf Fotos wird sie aussehen, wie der Kapitän eines Handelsschiffes, der in seiner Kombüse einen Kartoffelsalat aß, als das Meer über ihm zusammenbrach.
Es ist allgemeinhin bekannt, dass einsame Menschen lächerlich sind. Das Grässlichste natürlich, wenn einsame Menschen allein sind, allein zu Hause oder allein im Kino oder allein im Hotel. Es wird einem übel, wenn man sich vorstellt, wie ein Mann alleine vor einem Abendessen sitzt, zum Beispiel vor einem Stück gebackenen Ziegenkäse mit Hagebuttenmarmelade und in Sherry eingelegten Feigen, dazu Schupfnudeln und ein einfacher Salat. Man muss ernsthaft mit sich kämpfen, den Würgereflex zurückzuhalten, wenn man sich vorstellt, wie dieser einsame Mann sich eine Flasche Rotwein öffnet. Das Etikett begutachtet wie ein altes Foto, nostalgisch, und einschenkt. Sich langsam einschenkt, den Wein beim Rollen beobachtet. In Gedanken einer vergangenen Liebe zuprostet. Vielleicht murmelt er ihren Namen oder atmet schwer. Dann riecht er am Wein, schwenkt ihn und führt ihn zum Mund, fühlt den Wein, und schluckt ihn runter. Es läuft womöglich Musik, bei der eine Klarinette von entscheidender Wichtigkeit ist. Donna liebt Klarinetten. Im Loop oder im Konzert. Und Donna wird, als ihm das bewusst wird, eklig ums Herz. Also geht er auf den Spielplatz und beobachtet Kinder. Er mag es, wenn sich unter all den mittelreichen weißen manchmal auch mittelreiche schwarze Mädchen und Jungen auf den Schaukeln und Klettergerüsten vergnügen. Er war nicht immer allein. Er war einmal ein Vater, ein schlechter, das mag gut sein, aber ein Vater. Irgendwo in dieser gesegneten westlichen Hemisphäre befindet sich der kleine Miles Jones, der nicht mehr wirklich klein ist und dessen halbes Ich aus Donna besteht. Manchmal fragen die älteren Jungs, ob Donna mit ihnen Basketball spielen möchte. Dann bringt er ihnen Tricks bei und ist fair. Das sind die Momente, in denen das Bier am besten schmeckt. Einmal hat er den Jungs einen Träger Miller High Life gekauft, sie finden, dass Donna ein cooler Typ ist, und ihre Eltern erfahren nichts.
–Passt auf, bevor ihr nach Hause kommt, trinkt ihr alle ein Glas Milch. Das neutralisiert den Geruch.
Gleich wird er Bobby treffen. Dieser ist ebenso gerne auf Spielplätzen. Und wäre Donna nicht so lange geblieben heute, manchmal kann er schlicht nicht zurück ins L'Otel Chacal, der dort wartende Frust ist zu gigantisch, hätten sie sich nie zu Gesicht bekommen. Bobby kommt nach dem Sonnenuntergang mit einer Flasche Curaçao und hinterlässt nichts als Verwirrung unter haarlosen Brustplatten und blaue Flecken im Sand.
–Was machen Sie denn hier?
–Ich? Was machen Sie denn hier? Wer sind Sie überhaupt?
–Hier sind keine Erwachsenen erlaubt.
–Und was machen Sie dann hier, bitte?
–Ich ermittle! Was haben Sie da?
–Nichts, gar nichts.
–Geben sie den Kindern etwa Alkohol?
–Nein, ich –
–Hände auf den Rücken. Hände auf den Rücken, perverses Schwein! Ich habe gesagt: Hände auf den Rücken!
–Gut. Donna, sie wissen nicht, wer ich bin, aber wenn Sie mich jetzt loslassen, wenn Sie mich nicht wegen der Verführung Minderjähriger belangen, dann bekommen Sie eins der Tagebücher.
–Halts Maul!
Chesleys Eintrag vom Tag des Mordes: Treffe mich heute wieder mit dem Jungen, dessen Namen ich vergessen habe. Er will sich mit mir die Beos anschauen. Ich mag Beos.
Neben etwaigen Rechtschreibkorrekturen und Setzungen von Werbung, Heirats- und Scheidungsverkündigungen waren Meggys Aufgaben bei der New England Times nicht besonders spannend. Sie hatte sich mehr erhofft, hatte von investigativen Strategien geträumt und im Badezimmerspiegel Gesichtsausdrücke trainiert, welche Interesse zeigen, Mitgefühl oder Naivität, um besser an Informationen zu gelangen. Nur, dass ihr der Chefredakteur für keinen Dime über den Weg traut. Die Spitze des abermals angespitzten Bleistifts bricht abermals auf Meggys Schreibtisch, der der Schreibtisch von Meggys Mutter ist, zur Seite. Längst hat sie all die Aufgaben erfüllt, die ihr aufgetragen wurden, und begonnen zu kritzeln. Faulabstakt ins Leere der Tischplatte. Es wird sich ein Muster abbilden auf Dauer. Schätzt sie. Sie hat schon lange nicht mehr wirklich gedacht. Sie führt nur noch aus, lethargisch und ungerissen. Sie füllt leere Seiten mit leerem Inhalt und hat die Hoffnung aufgegeben, einmal einen Satz zu schreiben, der tatsächlich von Belang sein könnte. Bis die Editorin des Heimatteils zu ihr an den Tisch kommt. Eleonore Heithworth, die aus Yale geflogen ist, weil sie eine Affäre mit einem Hausmeister hatte, kurz vor ihrem Abschluss. Dabei hat man über sie gesagt, dass sie Talent hat. Hat sich alles selbst erarbeitet, arme Eltern, harte Jugend, musste wirklich kämpfen für das Stipendium und bekam es schließlich. Von da an schien es bergauf zu gehen. Sie erregte Aufsehen in Yale, mit ihrer höflichen Handschrift. Sie konnte über zwanzig, dreißig Seiten ohne Adjektive auskommen, immer klar und sparsam im Schreiben. Doch dann die Affäre mit dem Hausmeister, was in Yale nicht erlaubt ist, Sex mit dem Milieu, und auch noch sagen, dass es der Mann fürs Leben sei, auch noch von Heirat sprechen. Schließlich fliegt sie und hat sich seitdem nie mehr dazu geäußert. Wo der Hausmeister oder was aus ihm geworden ist, auch dazu keine Stellungnahme. Keine der großen Zeitungen wollte sie haben, ihr Name war beschmutzt, und so zog sie nach Beetaville, wo Rebecca, ihre Cousine zweiten Grades, mit ihren Kindern Joseph und Chesley wohnte. Da Rebecca Heithworth den Tod ihrer Tochter jedoch nicht verkraftet hatte, geschweige denn, dass ihr Mann mit einer anderen durchgebrannt war, zog sie kurzerhand, als auch Joseph wegen seiner Musikkarriere das Haus verließ, aus, und überließ dieses ihrer Cousine zweiten Grades, welche sie nie wirklich mochte, vor allem wegen ihrer in ihrer beider Familie unüblichen Armut. Es handelte sich bei diesem Geschenk um eine Demütigung. Eleonore stellt sich vor Meggys Schreibtisch und fragt mit leiser, aber klarer Stimme.
–Haben Sie einen Nachmittag Zeit, Miss Corey?
–Aber, ä, ja, natürlich. Wer wie, warum, also wie, hallo.
Meggy legt verlegen Schmierzettel über ihr Gekritzel, wobei auf den Schmierzetteln selbst nichts als Gekritzel ist, und legt sich schließlich selbst über den Tisch, sodass die obszönsten Strichkombinationen nicht direkt und sofort zu sehen sind. Eleonore Heithworth lächelt.
–Ich bin Eleonore Heithworth, und ich arbeite für den Heimatteil. Also wie steht es mit Ihrer Zeit?
Meggy klopft das Herz. Sofort ist ihr Eleonore eine Vaterfigur.
–Und?
–Klar, ich, ä!
Auf dem Weg zum kleinstädtischen Zoo spielt Meggy mit der Busfahrkarte herum, bis sie leichter ist als Luft, ihr die Schwerkraft nichts mehr anhat und aus dem einen Spaltbreit geöffneten Fahrtfenster gen Wolkendecke davonpirouiert. Sie soll einen sachlichen Bericht über die Eröffnung der Schmetterlingskammer schreiben. Doch noch bevor sie am buntblöden Schmettlingsverließ überhaupt ankommt, verlässt sie den Pfad ihrer Pflicht und beginnt einen Mann zu verfolgen, der ihr verdächtig vorkommt. Sie schleicht sich an den Ottern und Schweinchen vorbei, ohne auch nur einen Blick auf die süßen Kreaturen zu werfen. Am Vogelkäfig konfrontiert sie ihn.
–Agent Donna Jones! So ein Zufall aber auch!
–Meggy, was machst du denn hier?
–Die Frage lautet doch viel eher: Was machen Sie denn hier?
–Ich habe einen Hinweis bekommen.
–Sicher, dass es ihre Tagebücher waren? Sicher, dass Chesley sie geschrieben hat?
Doch noch bevor Donna auf die Besserwisserei reagieren kann, heult es schrill über dem Nachmittag. Die Schweine beginnen zu kreischen, den Ottern läuft das Blut aus den Mäulern, ihr Gedärm drückt sich hinaus aus den Augen, und alle Vögel im Käfig versuchen flatternd zu fliehen, sich mit aller Kraft gegen das Gitter werfend, denn hinter ihnen hat sich der Beo erhoben. Sein Krähen brennt sich durch die Spatzen.
–Dein Weiß komme, in Asche wie auf Erden.
Und Meggy reißt es den Leib aus dem Leib. Es zieht sie hinab unter die Erde, wo alles Hitze ist und Schmerz. Runter zu den tausendmäuligen Urtieren. Vor ihren Augen zittern Regenbögen in Farben, die sich nicht aus dem Licht der Sonne brechen lassen. Ein Schmetterling setzt sich auf ihren Zeigefinger. Sie führt ihn sich an den Mund, leckt den Staub von seinen Flügeln und hustet. Es schmeckt ein wenig bitter. Abgesehen von einer kleinen Spitze gegen den Preis des Eises, wird der Beitrag für den Lokalteil der Zeitung ein freundlicher Beitrag werden. Sachlich und nüchtern. Schaut Euch die Schmetterlingskammer an, Bewohner dieser Stadt, denn sie ist schön. Es werden Kinder kommen. Donna ist verschwunden.
Ihr Artikel hätte auf größere Resonanz stoßen können, wäre zu derselben Zeit, in der Meggy im Zoo war, nicht eine Aggregat 4 Boden-Boden-Rakete, die seinerzeit von KZ-Arbeitern in Peenemünde zusammengeschweißt wurde, auf Mwanza gefallen. Die Rakete hatte einen um einiges starrköpfigeren Charakter als ihre phallischen Schwestern. Sie ließ sich von niemandem etwas sagen, tat immer, was sie wollte, und ihr Ofen brannte schlicht heller, so hell, dass sie den geplanten zweiten Teil der ballistischen Kurve um etwa 54 Jahre verschoben, den Moment verpasst hatte, aus dem Weltraum wieder zurückzufallen auf zum Beispiel London oder Birmingham, und dort oben wartete, still und heimlich, gehässig. So lange, bis sie ein günstiger Weltraumwind zurückwehte in die Schwerkraft und zurück auf den Planeten. Knapp neben den Viktoriasee, knapp ins Herz der Hauptstadt der Region Mwanza, Mwanza, Tansania. Tansania klagt Entschädigung ein, aber Peenemünde verneint.
–Die Rakete haben nicht wir gebaut, das waren die Juden, oder vielleicht die Polen, wendet euch mal an die.
Israel aber sagt, dass das der Wernher von Braun war, den müsste man mal ansprechen, und nach einigem Hin und Her in Genf, Brüssel und Washington, schenkt man der Regierung von Tansania als Entschädigung eine Boden-Boden-Rakete von neustem Stand, und zwar nicht um Schuld einzugestehen, sondern als Geschenk ob der ersten demokratischen Wahlen des Landes. Kurz, man spricht in Beetaville nicht über die Zusammenfassung der lepidopteralen Erlebnisse, unter welche kursiv die Initiale M.C. gesetzt wurden, sondern über weltpolitische Eigenartigkeiten, die aber angenehm wenig mit der eigenen Welt zu tun haben.
–Ohne Strafdelikt drücke ich kein Auge zu.
Emily liegt in ihrem Bett und beobachtet die Decke und ein wenig sehen die Risse aus wie die Innenfläche einer Hand, etwa der Hand einer alten Bäuerin, welche sich als kleines Mädchen im November einmal an den Maiskolben geschnitten hat. Schon als Emily ein kleines Mädchen war, schlief sie ausschließlich auf dem Rücken. Nie, in keiner Krippe, in keinem Bettkasten, in keinem Kinderbett konnte man sie in der Fötusstellung erwischen. Ihr ganzes Leben lang schlief sie schon auf dem Rücken. Sie hatte es sich nicht mühsam angewöhnen müssen, wie es manche Frauen und Männer tun, wenn von ihnen erwartet wird, dass man sich des Nachts an ihre Brust schmiegen kann, sondern war schlicht schon immer ein Rückenschläfer gewesen. So liegt sie dort, die Beine übereinander, den linken Fuß unter dem rechten und die Hände schützend über dem Zwerchfell ineinandergefaltet. Bewegungslos, ein winterlicher Lustgarten. Aber sie weiß: Ohne ein Strafdelikt drücke ich kein verdammtes Auge zu. Ihr steifer Körper richtet sich langsam auf und sie schwebt zum Fenster hinaus. Das Weiß ihres Nachthemds im Licht der Nacht. Es sind keine Sterne zu sehen, nur der Mond steht allein und geil am Himmel. Eine vollkommene geometrische Figur, gestanzt aus dem schwarzen Alles, ein Loch in der Logik der Dunkelheit. Sie wandelt durch die Straßen, kommt an einer Tankstelle vorbei, fühlt dem Lauf der Springfield M 1855 mit ihrem Zeigefinger nach. Doch es ist keine Zeit für Raubüberfälle.
–Raubüberfälle sind etwas für die Wochenenden.
Ausreden. Weiter. Ziellos. Das Wachsein treibt sie umher, alles ist ihr fad, die leuchtenden Streifen, das Blinken, die Luft. Bis sie zu einem öffentlichen Briefkasten kommt. Sie versucht, ihre kleine Hand durch den Schlitz zu stecken, doch ihre Dürre ist nicht dürr genug. Sie fühlt die Ecke eines Briefes an ihrem Mittelfinger. Versucht, ihn zum Zeigefinger zu pressen, aber es gelingt ihr nicht. Nach mehrminütigem Ächzen und einigen Schwellungen in der Nähe des Ellenbogens gibt sie schließlich auf. Frustriert blickt sich Emily um. Sie sucht nach Hilfsmitteln und findet zu guter Letzt, ja, das könnte klappen, auf der anderen Straßenseite ist ein kleiner Garten, und außen am Haus, da, einen Wasserschlauch. Sie kurbelt ihn ran an den blauen Metallbehälter und lässt das Wasser laufen. Alle Briefe bis auf einen saugen sich sofort voll mit Wasser und bleiben auf dem Boden liegen. Der eine aber steigt mit der Wasseroberfläche langsam empor. Sie zieht ihn aus dem Kasten, tropft ihn kurz ab und wenn sie die leicht verwischte Schrift richtig entschlüsselt, von wem ist der Brief dann?
–Miranda Quickpath. Soso. Die habe ich doch das ein oder andere Mal ganz in der Nähe meiner, aha, diese meine Schwester ist also auch der Empfänger. Diese meine Schwester kenne ich doch, aber was steht drin? Was haben die beiden denn miteinander zu beschreiben? Was schreiben sie sich denn so, von Frau zu Frau, auf grobes, schönes Eiweißpapier?
Sie öffnet den Umschlag, nimmt den Teebeutel heraus, der zu einem Luftkissen geworden war, und liest das Gedicht, welches für fremde Augen bestimmt ist.
Heimlicher Geist, der du bist im Himmel, geheiligt werden deine Farben. So steht es geschrieben am Osttor der Universität Maine. Rostige, halb oval gesetzte Lettern. Es ist nicht so, dass Nataly versteht, was es bedeutet, aber es ist so, dass sie weiß, warum es dort steht. Man hat es ihr und all den anderen Erstsemestern bei der Einführungsveranstaltung erklärt. Es ist der erste Satz aus der wohl bekanntesten Abhandlung des kürzlich verstorbenen, franko-kanadischen Professors und Philologen Doktor Roland Schnurrh. In Der Autor ist ein Geist versucht Schnurrh anhand der Auferstehungsgeschichte im Neuen Testament einen Weg der Kulturgeschichte zu skizzieren, die vor allem von mittel- und nordeuropäischen Geistergeschichten und -sagen geprägt ist. Und darin macht er seinen Kritikpunkt an der Vorstellung von Autorenschaft aus, nämlich, dass man doch davon ausgehen soll, dass Schriftsteller keine lebendigen Wesen sind. Was er damit tut, ist gefühlten zweitausendvierhundert Jahren Literaturgeschichte eine Verwestheit vorzuwerfen, die unnötigerweise versucht, die eigene Leichenhaftigkeit zu kaschieren, um damit den Hermeneutischen Zirkel ex negativo ins Leben zu rufen, welcher uns die Phänomenologie des Spuks sichtbar macht. Eine Suchbewegung, die sich mit jedem Schritt weiter vom Verstehen entfernt, die sich fortbewegt vom Inhalt der Dinge und schließlich zur puren, unsemantischen und bedeutungslosen Sprachhaut wird. Einem dünnen Bettlaken mit zwei Löchern für die Augen. In diesem Zirkel entsteht, so Schnurrh, eine mechanisch-traumatische Parese, welche endlich die finale Trennung von Wort und Welt zur Folge hat. Beträge verlieren ihren Gegenwert, die Sprache wird zum blendenden, alles auslöschenden Weiß. Pigment des Verstorbenen. Was ein Autor macht, ist demnach, eine tote Wirklichkeit zu schaffen, scheinbar belebt, aber tatsächlich leer, denn was sich in dieser Wirklichkeit tummelt, das sind Schatten vergangener Bedeutungsabsprachen. Fröhliche Grabsteine. Weil es eben keine dreidimensionalen Wörter gibt.
–Es gibt sie nicht!
Wird Nataly angebrüllt von Schnurrhs langjährigem Assistenten und Feind Howard Noam.
–Es gibt sie nicht!
Noam ist bereits in seinen späten 68ern und viel zu früh Assistent geworden, keine zwanzig Jahre von seinem Doktorvater entfernt.
–Ist ja gut, ich habe es begriffen.
Hat sie nicht. Wie auch. In seiner siebenhundertseitigen Dissertation Das unsichtbare Land verfolgte der damals noch als Schnurrhist arbeitende Noam den Ansatz, den Staatskörper als einen Spektralkörper zu sehen, als einen strukturellen Wahnsinn, dem all seine Bewohner verfallen sind. Leider beginnt er nach gut einem Drittel der Argumentation auf nicht viel mehr zu verweisen als seinen Geschmack. Vor allem das Kapitel über den Lesben-Gefängnis-Film wurde ihm häufig zum Vorwurf gemacht. Anhand des Beispiels von Sasori – weiblicher Häftling Nr. 701: Skorpion (1972) skizziert er eine Welt, von der er ausgeht, dass es die unsere ist, in der Homosexualität die Folge von der Gefangenschaft im Käfig der Gesellschaft ist. Er kommt dann zu dem Schluss, dass gleichgeschlechtliche Liebe vielmehr Zurückpflanzung sei, das Verweigern der Arbeit an der menschlichen Gattung usw.
–Der Wahnsinn der westlichen Welt manifestiert sich also vor allem in japanischen Frauengefängnissen, interessant.
Das war der letzte Satz, den Schnurrh zu Noam gesagt haben soll. Die einleitenden Worte für eine Mittelmäßigkeit, die ihren Weg zurückgefunden hat in die Flure der Universität Maine.
Liebe Miss Quickpath, oder darf ich Miranda sagen? Ich habe das Gefühl, Ihnen so nahe zu sein, ich werde Sie Miranda nennen. Nun, liebe Miranda, Sie wissen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht, wer ich bin, aber ich werde es Ihnen gerne erläutern. Mein Name ist Emily, Emily Hay. Hat meine Schwester mich vielleicht einmal erwähnt? Ich denke doch. Über spitze Ecken bin ich zufällig an den Brief gelangt, den Sie meiner Schwester geschickt haben, und ich wusste nicht so recht, was ich daraus schließen sollte. Soll ich meine Schwester nun nach den Gesetzen des Staates Neuengland wegen Unzucht anzeigen? Oder gar Sie? Ich bitte Sie, helfen Sie mir irgendwie bei meiner Entscheidung. Hochachtungsvoll, Emily Hay. PS: Könnten Sie darauf achten, möglichst keine Banknoten beizulegen, die in den letzten zwei Jahren gedruckt wurden?
Meggy ist etwas Schönes passiert. An der Tankstelle, als sie für ihre Mutter und sich Fruchteis in der Form von Hamburgern gekauft hat und dazu noch eine Flasche Schnaps, da hat sich der Kioskverkäufer verrechnet. Er dachte, es wäre ein 50-Dollar-Schein gewesen, den er verschlafen in seine Kasse steckte, dabei war es ein 20-Dollar-Schein. Sie konnte sich das Grinsen nicht verkneifen, den gesamten Heimweg nicht, doch es ist das Jahr des Davonlaufens. Und als Meggy mit Eis, Schnaps und Schachbrett die knarzenden Kellertreppen hinuntersteigt, findet sie bloß noch ein Gemisch aus Spucke, Seife und Blut, welches an den Schellen schimmert. Ihre Mutter ist ihr entkommen. Meggy lässt fallen, was sie in der Hand hat, eine Flasche zerspringt auf dem Betonboden, sie hastet durch die Wohnung auf der Suche nach einer Antwort und plötzlich geht ihr die Geschichte durch den Kopf, die ihre Mutter ihr erzählt hatte, von welcher Meggy dachte, dass es als Aufmunterung gemeint war, wegen des Artikels über die Schmetterlinge, den niemand gelesen hatte, aber jetzt, wo die Mutter auf der Flucht ist, fragt sie sich, ob die Geschichte als Häme gemeint war. Es war einmal eine Frau, die auszog in den Wald, um alle Bäume zu fällen. Was soll sie tun, sie kann niemanden anrufen, Hilfe ist unmöglich. Kann sie überhaupt zurück in die Redaktion? Erst nach dem dritten Glas Rye-Soda fällt ihr der kleine Zettel auf, der an dem Kühlschrank hängt. Ich werde dich nicht fertig machen. Bis bald. Mama. Ihre Mutter hat eine wirklich schöne Handschrift. Trotzdem kann Meggy nicht behaupten, dass sie beruhigend sind, diese neun Wörter, aber immerhin, sie würde sie nicht fertig machen. Die Liebe einer Mutter. Ein Anfang.
Wer nicht davonlaufen kann, das ist Emily. Sie schlägt zwar mit dem Kolben einige Mal dorthin, wo sie ein Gesicht vermutet, aber es hilft nichts. Es beschert ihrem Angreifer zwar ernstzunehmende Verletzungen, aber es hilft nichts. Der Hammerschlag trifft sie auf den Kopf, wobei einmal gereicht hätte, und nichts hilft mehr, niemals wieder. Oder was haben die Leute gedacht? Dass das Töten aufhört? Einfach so?
Nataly liegt in der Badewanne eines Studentenwohnheims und ihre Mitbewohnerinnen klopfen an die Tür, doch Nataly hört nichts. Hygiene war ihr das Wichtigste im Leben geworden. Ihre Schwester hatte auf den letzten Brief nicht geantwortet und von Miranda hört sie auch nichts. Zwei Monate war sie nun schon an der Universität, es ist kastanienkalt und die meisten Studenten sind unfreundlich. Woher kamen diese Blutergüsse an ihrem Schienbein? Wo war es noch gleich, dass sie sich gestoßen hatte? Die einzige Person, mit der sie bisher ernsthaft in Kontakt gekommen war, ist Professor Noam. Er hatte sie zu sich ins Studienzimmer bestellt, in diesen modrigen Raum, in den kalkulierten Mief. Ihm schien ihre Arbeit über die niederländische Malerei und den Impressionismus in Bezug auf das Bild des Himmels zu gefallen. Van Goghs apoplektisches Firmament. Die Starre. Die Welt als Hülle und Entstellung. Den sie als Verweis auf die intellektuelle Eiszeit gedeutet hat, welche sich zum Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts in Europa ausbreitete. Ein Horizont, der sich schlicht nicht mehr erweitern lässt, der zur Wand geworden ist, zur undurchdringlichen Mauer. Der ausgelöscht wurde von dem Wissen, was hinter ihm ist. Die Entdecker der Welt, von ihrer Entdeckung eingesperrt. Professor Noam gefällt das sehr, aber noch mehr gefällt ihm die Art, wie Nataly manchmal während der Vorlesungen verträumt aus dem Fenster schaut, wie das Licht durch ihre Haare fällt, wie es sich im Melanin ihrer Iris verliert. Er wird seine Frau für sie verlassen, dieselbe Frau, für die er einstmals seine einstmalige Frau verlassen hatte. Wer hätte gedacht, dass Zwanzigjährige vierzig werden.
Vor dem Eiswürfelautomaten stehen zwei deutsche Kinder, eins acht, das andere zehn Jahre alt. Sie sind fasziniert von diesem Gerät, denn aus irgendeinem Grund sind Eiswürfel eine Art Luxus für sie. Aber in diesem Land fasziniert sie alles. Die Wüste, der Platzregen, Salt Lake City und gekringelte Pommes. Das labbrige Brot mit Frischkäse.
–Philadelphia, da waren wir doch auch, Vati.
–Ja.
–Aber der Weg geht noch weiter.
hatte er gesagt
–Bis rüber nach Boston.
Einmal durch das gesamte Land. Es war das Jahr der Olympischen Spiele in Atlanta, wie lange war das jetzt her? Zwei Monate, drei? Und alles, woran sich Kate Corey erinnert, sind die Bilder vom Bombenanschlag. Splitter, die sich in Zeitlupe durch eine Menschenmenge drehen. Bild für Bild, unscharf, grobkörnige Gemälde in Schwarz, Gelb und Rot, wie auf Cornflakes gemalt. Immer wieder liefen sie im Fernsehen, untertitelt vom Medaillenspiegel. In den Tagen der vollkommenen Einsamkeit, in denen Kate nicht schlafen konnte, so leer war ihr geworden, sah sie bloß noch diese Bilder. Wieder und wieder. Sie wollte sie verstehen, wollte verstehen, wo der Hass herkommen kann, das dümmste aller Gefühle. Wie sind sie konstituiert, die schlechten Gehirne des Landes? Als es den beiden Jungen nach fünf Minuten und sieben Litern verschütteter Eiswürfel immer noch nicht gelingt, den Eimer zu füllen, kniet sich Kate zu ihnen.
–Ihr müsst das so machen. Da, seht ihr?
Sie verstehen kein Englisch und sind eingeschüchtert von der Erscheinung der Frau. Darum nehmen sie den Eimer lieber so, leer wie er ist, und laufen davon. Vielleicht ist es auch der Geruch der halben Flasche Rotwein, der ihnen Angst einjagt. Wenn sie gewusst hätten, dass ihr Vater das Eis verwenden wird, um den beiden Langschläfern am nächsten Morgen ein besonders kaltes Aufwachen zu bereiten, sie hätten alles anders getan. Kate kühlt ihre Wunden an Hand- und Fußgelenken. Donna hatte ihr ein Auto besorgt, eher eine Maschine, einen alten Ford. Im Handschuhfach drei Döschen mit Dimenhydrinatcoffeintabletten. Die Straße, eine Zehntelsekunde Schlaf, das scharfe Einlenken nach links, der Schreck, ein zwei drei Pillen so lange kauen, bis der Geschmack kaum noch zu ertragen ist und dann mit Mundwasser alles zwischen all dem Zahnfleisch rausspülen und runterwürgen. Weiterfahren, die erste Vigilanz, die kurze blitzhafte, lebensrettende, durch den ätzenden Alkoholgeschmack von Listermine Cool Mint, die zweite durch die Irrheit und die zärtlichen Halluzinationen. Den heiligen Punkt treffen, irgendwo zwischen Betäubung und Schmerz. So weit weg wie möglich von Beetaville, einfach von allem davonfahren und hoffen, dass man die Füße nicht spürt. Sie wusste, dass ihre Knochen verletzt waren von der Flucht, wusste aber nicht in welcher Art oder Weise.
Sie hatten keinen Schlüssel und fanden keinen anderen Weg, die Ketten zu sprengen. Donna schaut sie an.
–Wirklich?
–Ja.
–Beiß da drauf.
–Halt.
–Was?
–Gib mir noch eine.
–Ist gut.
Er zieht, dreht, reißt die Schellen von ihren Füßen, von ihren Händen. Es dauert eine Weile, es geht schon. Zum Glück ist das Licht im Keller so schlecht, denkt Donna, dann ist der erste Fuß frei.
–Gehts?
Aber diese Frage gibt es nicht mehr.
–Branntwein!
–Ist gut.
Kate ist jetzt seit drei Tagen hier im Motel, liegt auf dem Bett und kühlt ihre Wunden. Sie will nicht zum Arzt gehen, hat keine Lust auf nichts. Worauf sie sich freut, ist das Nachlassen der Qual, und dass Hand- und Fußgelenke danach vielleicht irgendwie verformt sein könnten. Dass sie ein paar Accessoires ihrer Gefangenschaft behalten kann. Alle neidisch machen, barfuß am Strand. Und auf Donna, der versprochen hat, ihr zu folgen, wenn der Fall nur endlich geklärt wäre.
–Nicht mehr lange, eine falsche Bewegung von Jeff Cello und wir haben ihn.
–Wen ihn?
–Den Mörder.
–So?
Wäre Kate noch ein paar Kilometer weiter gefahren, würde sie zwar genauso in einem beliebigen Motelbett liegen, dafür aber mit funktionsfähigem Kabelanschluss, und sie würde CNN laufen lassen, durchgängig, denn das war schon immer das Einzige, was sie wirklich am Fernsehen interessierte. Nachrichten. Und wie die Menschen spielen, der Mensch, wie er zum Unmenschen wird vor der Kamera. Sonst ist es zu nichts zu gebrauchen. Da sind die Grenzen zu eng, die ein Fernseher in alle Richtungen hat. Auf CNN würde sie die junge Emily Hay erblicken, wie sie hoch oben eingenäht wurde in den Maschendrahtzaun hinter der Catchers Box auf dem Baseballfeld der High & Low High School. Sie würde wissen, dass Donna ihr nicht folgen wird, für eine ganze Weile nicht, nicht, solange der Fall nicht geklärt ist. Sie schluckt eine Handvoll Dramamine. Liegt da.
–Woher wusstest du, dass ich hier bin?
–Ein Spielkamerad hat es mir erzählt.
–Was für ein –
–Du musst fliehen und darfst nie zurückkommen. Hast du verstanden?
–Warum?
–Das ist die Bedingung.
–Und wer entscheidet das? Dein Spielkamerad?
–Kate, vertrau mir. Du kennst ihn nicht. Er steht in meiner Schuld. Es ist nicht einfach. Aber wenn du kannst, vertrau mir.
–Kommst du mit?
–Ich kann nicht. Nicht, solange wir ihn nicht haben. Aber wir sind ihm auf der Spur. Eine falsche Bewegung von Jeff Cello, und wir haben ihn.
Etwa einen Knoten in ein Hanfseil knoten. Etwa einen Zweistrang-Bändselknoten in ein ziemlich robustes Hanfseil knoten, eins, welches so rau ist, dass es einem die Handflächen aufreibt. Einen Knoten machen, der das Seil einteilt in Schlinge und Schlange, etwa dieses Seil über einen Giebel im Dachboden zu werfen, das wäre eine falsche Bewegung, oder einen Hocker bereitzustellen, den aus dem Badezimmer mit den drei Beinen, dessen Dreibeinigkeit ein Wegstoßen mit den Füßen ungleich schwerer macht als bei vielbeinigeren Hockern, etwa einen Altar aus Teelichtern errichten und entflammen, der Emily Hay gewidmet ist.
Sie haben sich nun beide eine Weile nicht mehr gesehen, Holly und Jeff, sie sind beide mehr mit sich selbst beschäftigt. Holly arbeitet ununterbrochen an ihrem Roman, sie hat sich eingeschlossen mit einem Familienfass Papageienschnaps, in einem Dickicht aus leeren Blättern. Das Schlagen auf die Schreibmaschine ist zu einem langen Ton geworden. Zu einem Dröhnen, einem Vibrato, das Geräusch einer nicht enden wollenden Explosion, der phonetische Querschnitt der nixonschen Weihnachts-Bomber über Hanoi. Die Hitze, die bei dieser Art von Schreiben entsteht, verwandelt ihr kleines Zimmer in einen tropischen Raum, kurz davor, Wolken zu kultivieren. Wir müssen sie uns nackt vorstellen. Jeder Satz ihres Romans Vielleicht beginnt mit dem Wort vielleicht. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes namens Opek Kamera, der eines Morgens beobachtet, wie sich die Sonne von der Erde wegbewegt. Wie sie immer tiefer ins Universum hineinfällt, dort, wo es weder Norden noch Süden gibt, nur Tiefe und Unschärfe. Nein, es ist wieder der alte Fehler, denn nicht die Sonne bewegt sich weg von der Erde, die Erde bewegt sich weg von der Sonne, sie verlässt ihre Umlaufbahn und rast im Hermeneutischen Zirkel ex negativo an den übrigen Planeten vorbei. Vorbei an Jupiter, Saturn, Uranus und Neptun. Wobei die Erde den armen Mond träge schwerkräftig hinter sich herzieht, eine müde Mutter, die ihr Junges über den Rasen eines späten Sonntagabends schleift. Bis die Erde irgendwann irgendwo ganz allein in einem All steht, um sie nichts, kein Licht keiner Sterne, die letzte Olive im Glas. All das beobachtet Opek Kamera, oder meint es zu beobachten, und versucht seine Mitmenschen davon zu überzeugen, dass es der Fall ist, dass es vielleicht der Fall ist. Der Fall der Welt in die Leere hinein, in die Kälte und Dunkelheit, doch man glaubt ihm nicht, über Hunderte von Seiten lang glaubt man ihm nicht. Dabei ist er sich so sicher, man brauche doch nur in den Himmel zu schauen, und es wäre offensichtlich. Aber niemand schaut in den Himmel. Schließlich lernt er ein junges Mädchen kennen, welches ihn davon überzeugt, den Blick vom Oben abzuwenden. Denn die Erde verlässt ihre Umlaufbahn nicht. Alles ist wie immer und das Universum ein zuverlässiger Kreis. Man kann sich doch bitte mit wichtigeren Dingen beschäftigen. (Dieser Part ist als klare Kritik am Weltraumprogramm der Vereinigten Staaten von Amerika gemeint.) Das Ganze endet dann in einer romantischen Reise an den Viktoriasee, wo sich Opek Kamera und das junge Mädchen die Sonne auf die Sonnenschirmchen scheinen lassen, denn diese ist immer noch genauso weit weg von allem wie seit Beginn des Romans. Und vielleicht, so schreibt sie, getrieben von einer fanatischen Liebe für das Paradoxe, die sie seit dem Moment verfolgt, da Collin Dragsbaek vom Dach des Silos fiel, vielleicht ist es wahr, vielleicht werden wir ewig leben. Und so endet ihr Roman, so endet ihre Arbeit, die sie nun ganz unbedingt jemandem zeigen möchte, und warum nicht der Person, die ihr am nächsten steht, auch wenn sie das Schreiben von allen anderen menschlichen Lebensformen meilenweit entfernt hat, sie, die eine wirkliche Beziehung mit der Einsamkeit der Schrift eingegangen ist und in Jeff Cello nichts anderes mehr sieht als einen Fremden, der ihr den Nachnamen Cello schenkte. Holly Cello, so steht es auf dem Deckblatt ihres Manuskripts. Sie geht durch die Wohnung und sucht nach ihrem Ehemann. Doch findet sie ihn nirgends, allerdings die Klapptreppe zum Dachboden offen.
–Jeff?
ruft sie
–Jeff, ich bin fertig mit dem Manuskript.
Und wie falsch man mit dem letzten Satz eines Buches liegen kann, welcher ja eigentlich strahlen muss und ein weltwahrheitliches Schwingen mittragen, das wird sich auf dem Dachboden erweisen. Denn nicht nur nicht vielleicht, sondern ganz sicher lebte Jeff Cello nicht ewig, sondern begrenzt bis gerade eben. Die Teelichter brennen noch, einige zumindest. Holly reagiert absolut souverän, fängt an zu schreien und zu zittern, springt am leblosen Körper hoch, durchtrennt den Strick in einer Schockextase, fällt mit ihm zu Boden, dass sich Wachs auf dem Dachboden verteilt, auch kleine Feuerstellen. Für die Holly kein Auge hat. Alles, was sie tut, ist, den Namen ihres Nachnamensgebers zu kreischen und auf ihn einzuschlagen, dass er endlich aufwacht. Sie beißt ihm in die Hand, in den Hals und ins Gesicht, dass er endlich aufwacht. Einen Gefallen, den er ihr nicht tut. Plötzlich wird sie sich ihrer selbst bewusst, eine raubtierartige Außensicht fällt sie an, und sie erblickt sich, abgemagert, ausgedünnt von Schmerz, Schnaps und Schrift, mit blutverschmierten Lippen, Wangen und Fingerspitzen, der Haut ihres Gatten zwischen Zahn und Zahnfleisch, erblickt das Feuer um sie, den Dachboden ihres Hauses, der in Flammen steht, und kann sich nun entscheiden, ob sie den toten Jeff Cello, oder das einzig ihr übriggebliebene Lebendige retten möchte, Opek Kamera.
1.
Vier, vielleicht sechs Polizeiwagen kriechen Serpentinen hinauf. Es schneit und der Hang riecht nach Diesel. Scheibenwischer stottern über die vereisten Frontscheiben. Agent Donna würde das Geräusch eher als ein Quietschen beschreiben, würde man ihn fragen. Wenn schon den Vergleich mit einer Sprachstörung ziehen, dann mit einer, die etwas mit missgebildeten Stimmbändern zu tun hat, mit einer Mutation oder einer vererbten Krankheit. Er schaut aus dem Fenster und alles ist irgendwie ascheblau, die Wolken, der Schnee, die Nadelbäume. Neben ihm auf dem Rücksitz liegt eine Mappe mit Fotos vom Tatort, vom Leichnam und den kleinen, gelbnummerierten Markierungen auf dem gefrorenen Boden, eine dort, wo die Tatwaffe hätte sein sollen, aller Wahrscheinlichkeit nach. Die beiden Beamten auf den Sitzen vor ihm summen ein Lied, von welchem nicht sicher ist, dass es es überhaupt gibt. Donna wollte Sushi essen gehen, seine Kollegen Chili, zwei gegen einen, wie immer, und jetzt hat er Bauchschmerzen und das Gefühl eines vagen Brechreizes zwischen Herz und Blinddarm. Die Fahrzeuge winden sich ihren weiteren Weg nach oben. Es ist kälter geworden in den letzten zwei Tagen. Wie lange, fragt sich Donna, wie lange soll ich eigentlich noch der dümmste Mann sein? Zunächst für immer, doch bald, da sich die Kleinstadt mehr und mehr zu einer Stadt verdunkelt, da es einen Zuzug gibt, da sich ihr andere Kleinstädte anschließen werden, da sie sich in einen gesegneten Ort verwandelt hat, gesegnet von Sensationen unerklärlicher Grausamkeit, wollen die Menschen aus dem ganzen Land hier leben. Und da müssen die Platzierungen neu verteilt werden, wer denn der Dümmste ist, und da wird sich gegebenenfalls jemand finden, Donna abzulösen. Von Kate hört er nur selten. Zwei lange Jahre, in denen sie sich nicht mehr nah waren. Er ist sich sicher, dass zumindest sie die Hoffnung aufgegeben hat, einander wiederzufinden. Kate will nicht zurück nach Beetaville und Donna kann das verstehen, doch Donna darf die Stadt nicht verlassen, nicht solange die Gefahr besteht, Fotos von ermordeten Kindern neben sich auf dem Rücksitz liegen zu haben, die vielleicht nicht mehr lebendig sind, einfach weil er ein Idiot war und ist. Dabei hatte er es sich so schön vorgestellt. Wieder und erneut ist er die Szenarien durchgegangen. Er und sie. Wie sie gemeinsam auf einem Dach stehen und über zufällige Gebäude schauen. Oder wie sie am Wasser sitzen. Das Wasser ist aber warm und die Nacht auch, und klar, und ja, sie haben ihre Narben hier und dort, aber wer hat das nicht? Und es gibt Tage, da spürt man sie gar nicht. Sie sind erwachsen. Sie wissen die Dinge zu schätzen, selbst wenn sie nicht mehr den Zauber haben, welchen sie einmal hatten, selbst wenn es keine grundlegend neuen Gefühle mehr zu entdecken gibt, selbst wenn sie sich an eine Liebe gewöhnt haben. Aber was passiert ist, das war kälter. Der Jahreswechsel kam und nach Emilys Tod schlief Beetaville ein. Die beiden telefonierten ab und an, doch Kate fiel das Reden schwer in der Nacht und Donna konnte tagsüber keinen freien Gedanken finden. Kates Zustand verschlimmerte sich und eine Abhängigkeit stellte sich ein. Eine Abhängigkeit von Mundwasser und Wachmachern und Einschläfern, eine Sucht nach Schweigen, nach ewig langen, völlig ausgehöhlten Telefonaten mit Donna, den sie liebevoll ihren Neger nannte, wenn sie wach war. Oder bei Bewusstsein. Die Belastung hielt nicht bis zum Frühling. Er versuchte ihr zu erklären, dass sie ihre Süchte bekämpfen muss, und zwar allein. Sodass die Verheißung, die eines Nachts in den beiden keimte, in dem jeweils anderen den vorerst letzten Partner gefunden zu haben, verbitterte. Was geblieben ist, das sind die Briefe, die Kate alle Jubelmonate einmal verschickt. Briefe, in denen nichts steht, dafür sind Fotografien von Teilen ihres Körpers beigelegt. Mal ein Bein, mal eine Brust, selten Ausschnitte ihres Gesichts. Als würde sie zeigen wollen, wie ihr Körper ohne ihn altert, und wie nutzlos er wird, ungeküsst. Wie er sich in Einzelteile auflöst, zusammenhangslose Schichten von Haut. Was passiert, wenn die Falten nicht willkommen geheißen werden von einer Zunge oder einem Mittelfinger. Und beim Anblick dieser Körperteile, die ihm gruselig erscheinen, wie Werbung für ein Schlachthaus, wie Fotos von einem Tatort, fällt ihm auf, wie sehr er seine Familie vermisst. Oder eine Familie. Dabei hatte er doch einmal eine gehabt. Eine Frau in einem losen Haus in Bushwick. Dort, wo man Freundschaften schließt mit dem Burritoverkäufer, wo man Mädchen mit geflochtenen Haaren auf BMX-Rädern die Straßen runterfahren sieht, wie sie mit Fantasie-Maschinenpistolen auf Verräter schießen, wo man mit seinem Sohn auf das Basketballfeld geht, bis spät in die Nacht und mit jedem Miller High Life bessere Würfe sehen möchte, wo man sehen möchte, wie jeder Dreier seinen Weg in den Korb findet. Bis man ihm den Ball mit aller Gewalt gegen die Brust wirft. Wobei sich der Sohn vielleicht den kleinen Finger bricht, als er ihn schützend hochschnellen lässt. Was einem am nächsten Morgen alles harmloser vorkommt, als es war. Doch geht es um den Sohn. Nur um den Sohn.
2.
Miles, der sich sein High School-Diplom eingerahmt hatte, als einer der Besten seines Jahrgangs, um damit in einer Kneipenschlägerei eine überraschende Waffe zur Hand zu haben, starrt der älteren Frau in die grauen Augen. Und obwohl es seinen Charakter nicht definiert, seinen momentanen Seins- und Jetztzustand nicht imstande ist zu umschreiben, der Job als Barkeeper in der Bankrupt Circus Bar am Highway 75 bei Tifton, Georgia, so hilft es ihm doch, eine Menge Alkohol zu vertragen. Wenn er gefragt wird, was er denn sonst so macht, dann stellt er dem Gegenüber meist ein kurzes Glas vor die Nase.
–Manchmal, wenn ich äußerst betrunken bin, dann beantworte ich diese Frage gewissenhaft und ehrlich. Denn manchmal, wenn ich betrunken bin, da lasse ich Menschen so unmittelbar an mich, wie es nur geht, denn dann will ich mit jedem befreundet sein und mit jeder vermählt, dann brechen die Steine einfach weg, und was man sieht, was bleibt, das bin dann ich. Das pure und wahre Ich, das keine Sprache kennt, weder Gestik noch Mimik noch Mystik. Das keine Hülle mehr hat und keine Gestalt, das sakrale Wesen, nachdem wir so lange gesucht haben, in all den Jahren des Umherirrens.
Was in ziemlich allen Fällen damit endet, dass jemand aus dem Raum getragen werden muss, der nicht Miles ist. Die Bankrupt Circus Bar ist ein Ort, an dem sich Menschen befinden, die auf der Durchreise sind, oder gerade ein Zimmer im Motel ein paar Meilen weiter gebucht haben, Menschen, die Schnaps und Longdrinks trinken wollen. Der einzige Verdienst, den die Bankrupt Circus Bar am Highway macht, ist ein Resultat aus Schnaps, Wodka Soda und Whisky Ginger Ale. Da wird Geld gemacht, nicht aber mit Bier oder Nachos, Bier und Nachos werden zum Einkaufspreis serviert, einfach, weil sich das gehört und weil ein gewisses Maß an Humanismus erforderlich ist. Denn das Projekt der Verbesserung der Welt ist noch lange nicht aufgegeben und es beginnt bei genau allen. An exakt jedem kleinen Morgen fängt es von Neuem an. Der Raum ist holzvertäfelt und einladend süffig gestaltet. Aus dem dichten Nebel aus Dekoration, alten Werbungen im Jugendstil, Dartscheiben, Postkarten und gelben Zeitungsartikeln stechen vor allem die Kunstwerke des lokalen Künstlers hervor, der sich auf die zweidimensionale Nachbildung von Amphetaminderivatverbindungen spezialisiert hat, deren struktureller Schönheit er mit Neonröhren und Messing huldigt. Miles kann damit zwar nichts anfangen, muss es aber auch nicht, geschweige denn verantworten. Und die grauen Augen starren zurück in seine.
–Was du gerade gesagt hast?
–Dass sie sich immer noch nicht sicher sind, ob Jeff Cello bei dem Brand umgekommen ist oder nicht. Dass sie sich immer noch nicht sicher sind, ob er der Täter war. Dass sie sich immer noch nicht sicher sind, ob die Mordserie des Vollstrickers nun beendet ist oder nicht.
–Nein. Ich meine davor.
–Was?
–Von wem du das weißt.
–Von dem zuständigen Agenten, einem Freund von mir. Donna Jones.
Da überkommt Miles eine Ahnung, dass er die Frau verführen sollte, die dort so einsam vor ihrem Wodka Soda sitzt.
–Ist ein ruhiger Abend, was?
–Nicht ruhiger als andere. Beziehungsweise doch, doch ruhiger als andere.
–Ist sonst viel los?
–Manchmal. Am Wochenende läuft Sport. Nachos?
–Gerne.
–Wissen Sie –
–Warte.
–Was denn?
–Ich komme damit klar, allein zu sein. Du brauchst dich nicht mit mir zu unterhalten, ich brauche keine Beschäftigung. Wenn ich was will, dann sage ich es dir. Und fertig. Also, ja, also wenn du ein Buch lesen möchtest oder in einer Zeitschrift herumblättern, lass dich nicht aufhalten, wenn du vor die Tür gehen möchtest, um die Pferdeherde am Horizont zu erschießen, tu es.
–Wissen Sie was, Madame, wir betrinken uns jetzt.
Und so betrinken sie sich und erzählen sich aus ihren Leben, warum sie einsam sind, warum sie keine Jobs haben und nie welche bekommen werden, warum salziges Popcorn zu bevorzugen ist, und wenn andere Gäste hereinkommen, werden sie einfach so lange ignoriert, bis sie verschwinden. Und Kate erzählt von ihrer Tochter, was für eine talentierte Journalistin sie sei, dass sie sie nun aber bereits ein paar Jahre nicht mehr gesehen habe. Dass sie sich aber sicher ist, sie gehe ihren Weg, sie werde die Schlechtigkeiten ablegen, die ihr ihre Jugend waren, und werde einen klaren Stil finden, der von den Dingen berichtet, wie sie wirklich sind. Miles hört ihr zu oder lächelt oder steckt sich eine Zigarette an. Kate läuft auf und ab vor dem Tresen, um ihren verkrüppelten Fuß zu präsentieren, und es scheint, als wäre sie gerade wirklich glücklich, befreit auf eine Art. Als schwebe sie. Diese Frau, die aussieht, wie aus altem Bauholz und noch älteren Nägeln zusammengebaut, fahrlässig und lieblos, das Kleid, das sie trägt, dass sie überhaupt ein Kleid trägt, alles, alles ist egal geworden. Sie schwebt. Sie erzählt von den Morden, gleicht ihre Informationen mit denen aus Fernsehen und Zeitung ab, gewährt Miles einen Einblick in die schreckliche Zeit vor zwei Jahren. Schließlich kommen sie auf Donna zu sprechen, und Miles lässt sich nichts anmerken. Eine herrliche Gleichgültigkeit ist es, die ihm der Alkohol schenkt. Als die beiden das Lokal verlassen und hinter sich zuschließen, gehen sie Arm in Arm.
–Du musst nicht, jetzt also nur, weil du denkst, und wir haben ja auch einiges –
–Ich weiß, was ich machen muss, und was nicht, Madame.
Und es war eine Stimmung, in der man sich nicht küsst, in der man weiß, dass man nackt sein wird und sich vielleicht ableckt, aber zu der nichts hinführen muss, kein Aufbau und keine Dramaturgie. Keine Spannung. Ein betrunkenes, völlig nüchternes Abwägen und Entscheiden. Miles weiß zu diesem Zeitpunkt schon ziemlich sicher, dass diese Madame, die er da stützt, ziemlich sicher mit seinem Vater geschlafen hat, man konnte es raushören, wie sie das gesagt hatte
–Donna Jones, ein Freund.
und so nimmt er sie mit nach Hause. Der Sex ist hart und lang. Kate hat zwischendurch sogar das Bedürfnis, dem Penetrierenden eine Ohrfeige zu geben, hält sich dann aber zurück. Mit dem Alter kommt die Schüchternheit. Sie schläft sofort ein. Eine Ähnlichkeit ist ihr nicht aufgefallen, zu wem denn auch, es ist schon so lange her, und zwischen Jetzt und der Zeit in Beetaville liegen weite Strecken, Jahre, ein von den Antihistaminika völlig verzerrtes und in die Länge gezogenes Umherfahren. An wen sollte er sie erinnern. Miles steht auf, er findet es viel zu schwül zum Schlafen und er steht da im Zimmer. Er überlegt, ob er sich die Zähne putzen soll, entscheidet sich dann aber für eine Zigarette. Er reißt das Streichholz über die raue Seitenfläche, der Kopf entzündet sich, kreischt, schlägt Funken aus, explodiert langsam. Miles raucht bedächtig. Beobachtet die blauen Schlieren im Mondlicht, wie sie sich mit der Luft vermischen und den Geruch von Schweiß und Sex verdrängen, wie sie an sich gerissen wird, die Wahrnehmungshoheit im Raum. Als er den Stummel auf dem Teppichboden austritt, überlegt er für einen kurzen Moment, ob er Kate genauso austreten soll, die letzte Stecknadel Glut, die noch in ihr ist, löschen, steht da, steht einfach da, überlegt, ob das eine freundliche oder erlösende Geste wäre, und beobachtet den fleischigen Frauenkörper, wie er in einer Erbärmlichkeit zwischen Delirium und Schlaf daliegt.
3.
Miles nimmt seinen Rucksack und geht. Er geht an die Kasse der Bankrupt Circus Bar am Highway und geht. Er begeht ein zwei andere kleinere Delikte und geht. Er schreibt seiner Mutter eine Notiz, von der er ausgeht, dass sie sie ignorieren wird. Erstmal wandert er durch die Nacht, die Straße entlang, seine Richtung heißt Neuengland, einmal die Küste hoch, immer nach Norden, und auf jedem Breitengrad zieht er sich einen weiteren Pullover über, denn das Land ist kalt geworden. Er lässt sich von Truckfahrern mitnehmen oder von Geschäftsreisenden, manchmal schläft er im Motel, oder gar nicht, oder auf dem Rücksitz eines Familienwagens, wo ein kleines weißes Mädchen ängstlich versucht, keine Berührungen zu verursachen. Sie starrt in ihr Malbuch. Mutter meint, es wäre okay, den Fremden ein paar Meilen mitzunehmen. New York ist weniger ein Wohnraum als ein Friedhof, im Vorbeifahren sieht er die Millionen Grabsteine Queens, die sich wie Flechten über das Land ziehen und die Äcker unbestellbar machen, dahinter irgendwo Manhattan. Getrennt durch den East River, der wie der Styx zwischen den beiden Stadtteilen liegt und die Armen von den Reichen trennt, die Lebenden von den Toten. So zumindest stellt Miles sich das vor. Wobei er in seiner Zuordnung von Lebendig und Gestorben falsch liegt, die Seiten vertauscht, nur den Fluss gesehen und dann den schnellen und zu einfachen Trugschluss gezogen hat. Außer ein paar Dingen zum Warmhalten, Socken, einer Regenjacke und Panzerklebeband hat der Reisende nicht viel bei sich. Ein kleines Heft für Bemerkungen, Adressen und Details. Zwei Stifte, zwei Messer, eine Dynamo-Taschenlampe und ein Buch. Wie andere, die in die Wildnis gehen, um Walden lesen zu können, sich wieder und wieder an Thoreaus Holzhütte das Aussteigerherz aufwärmen, hat Miles Opek Kamera von Holly Cello in seiner Manteltasche. Wie oft er es schon gelesen hat, ist schwer zu sagen. Täglich schlägt er es wahllos auf und liest ein paar Stunden oder Minuten. Wobei nicht sicher ist, ob er das Buch im Ganzen kennt. Es ist möglich, dass er die erste Seite, wenn es der Zufall nicht erlaubte, bislang nie aufgeschlagen hat. Die Fragmente seiner Lektüre flechten sich in seinen Alltag ein. Sätze wiederholen sich, Bilder finden sich wieder, überall, zwischen zwei Häusern, im Seitenspiegel eines Cadillacs oder den riesigen schwarzen Augen einer Kuh. Mehr und mehr werden Opeks Gedanken zu seinen. Gegen das Licht der Sonne starrt er jeden Morgen in den Himmel, schaut, ob alles seine Richtigkeit hat. Erst waren es bloß ein paar Passagen, die er auswendig konnte, jetzt sind es Kapitel. So betet er sich in den Schlaf in Opeks Suren. Auf dem Highway nach Maine nimmt ihn eine Gruppe von kanadischen Iren mit, laut und unmelodiös, Bastarde von ungeheurer Gestalt.
–Schlau musst du sein und gemein, sinnlos und süß, die Liebe musst du verlieren aus dem Schädel. Nett musst du sein und verlogen, falsch und einfühlsam, ein abstoßendes Ding und ein Schwamm, das Leben imitieren und all die Ritzen füllen, die Gott gelassen hat. Alles berühren, was der Allmächtige auf seinem Weg vergisst.
Gemeinsam überfallen sie eine vegetarische Fast Food-Kette, außerdem klauen sie einer jungen Mutter ihr Kind aus dem Kinderwagen.
–Ich wollte schon Vater sein, seitdem mich mein Alter das erste Mal verprügelt hat.
–Und was machen wir jetzt mit dem Kleinen?
–Ist es denn ein Junge oder ein Mädchen?
–Er soll Gin heißen.
–Es ist ein Mädchen.
–Dann soll sie Gin heißen.
–Gin MacAdler.
–Das ist ein schöner Name.
–Ich finde auch, dass das ein schöner Name ist.
–Sagt mal.
fragt Miles, die kleine, schreiende und sich absolut nicht beruhigen wollende Gin auf dem Arm,
–Ihr meint, ihr wärt kanadische Iren, aber warum nicht irische Kanadier?
–Das ist eine Frage der Gewichtung. Welches von beiden man großschreiben möchte, welches der Postbote ist und welches die Adresse, welches der Baumstamm, und welches der Ast.
–Im Übrigen sind wir weder Kanadier noch Iren.
Na dann, denkt sich Miles, na dann. Und desto näher sie Beetaville kommen, desto nervöser werden seine Reisebegleiter. Kurz vor dem Ziel muss Gin fürchterlich kotzen.
–Wir können nicht weiterfahren, Miles, du bist ein guter Kerl, aber wir können einfach nicht weiterfahren, das wäre unverantwortlich dem Kind gegenüber.
–Beetaville ist ein Ort für Leichen, nicht für uns.
–Verstehe, Jungs, aber danke fürs Mitnehmen.
–Kein Problem.
–Solltest du jemals Hilfe brauchen, schütte einfach etwas Ahornsirup in ein Glas Jameson, dann kommen wir und retten dich.
–Ist gut. Danke.
Den Rest der Strecke geht er zu Fuß, und auf seinem Weg trifft er weitere Pilger, die alle ihre Meinungen und Ansichten haben, die alles wissen über die Morde, die den Ort kennen, seine Geschichte und seine Geschichten.
4.
Holly Cello hatte das Manuskript ihres Romans an den prestigeträchtigen Bierkampf-Verlag in Chicago geschickt. Vier Tage später kam ein Umschlag mit Vertrag und Hochschätzung. Das Einzige, was verändert werden muss, ist der Titel, so der Vertrag, denn Vielleicht, das gehe nicht, ob man den Roman nicht einfach nach seiner Hauptfigur benennen könne. Holly hatte keine Einwände. Und so erschien Opek Kamera in einer überschaubaren Auflage von 15.000 Exemplaren, etwa sechs Monate nachdem sich Jeff Cello das Leben nahm. Holly wollte nicht mehr teilhaben an ihrer Arbeit, kaum hatte sie sie beendet. Sie schrieb längst an etwas anderem und hasst alle Formen der medialen Aufmerksamkeit. Sie gibt keine Interviews und beantwortet keine Briefe, nicht einmal Briefe wertgeschätzter Autorenkollegen, und schnell bekommt sie den Ruf, eine schwierige Person zu sein. Auch werden keine Fotos von ihr veröffentlicht, es ist unbekannt, wo sie wohnt. Vielleicht in Boston, mutmaßen einige. Es könnte von der beschriebenen Landschaft passen. In Beetaville gibt es nur eine ausgewählte Leserschaft zeitgenössischer Literatur, welche sich in Kreisen befindet, welche noch nie mit Holly in Kontakt gekommen sind, sodass man in eben jenen Kreisen belustigt darüber spekuliert, welchen Ort diese wunderliche Autorin wohl ihre Heimat nennt, ohne zu wissen, dass sie ihr des Öfteren beim Erwerb von Spirituosen den letzten trockenen Krimsekt vor der Nase wegerwerben. Es ist nicht der Fall, dass Holly ihre Identität verstecken will oder ein Geheimnis daraus machen, sie ist bloß nicht an ihrer eigenen Person interessiert und kann deshalb anderer Leute Interesse dafür nicht nachvollziehen. Schnell folgt das Taschenbuch, die zweite und dritte Auflage von Opek Kamera, oder auch Opus Kamera, wie manchmal fälschlicherweise betitelt. Außerdem erscheinen weltweit Übersetzungen und ein telefonbuchdickes Comic, welches das Buch nacherzählt. Ein Studio aus L.A. erfragt, ob es die Filmrechte bekommt, die Verleger verhandeln schlecht und das Studio aus L.A. kauft sich stattdessen die Rechte an dem telefonbuchdicken Comic. Die Kritiken überschlagen sich zunächst, nehmen ihren Überschwang dann aber zurück und revidieren das Geschriebene bisweilen. Aber da ist es schon zu spät und Holly Cello ist zu einer Ikone der US-amerikanischen Gegenkultur geworden. Zur einen Hälfte wegen ihres Schreibens und zur anderen, weil man so wenig über sie weiß. Europäer hassen sie. Als Donna sie fragt, ob Jeff im Haus war, als es niederbrannte, da schweigt sie. Sie hat endgültig mit dem Sprechen gebrochen. Es repräsentiert ja immer nur ihre ewige eigene Person. Genauso wie ihr Aussehen, welches ihr ebenso zuwider ist. Sie trägt lange Regenjacken und zieht sich die Kapuze ins Gesicht. Sie hatte sich dafür entschieden, den Leichnam ihres Mannes auf einem Dachboden verbrennen zu lassen, was gibt es da noch zu reden. Was gibt es überhaupt zu reden. Wir sind grausame Tiere und das Wetzfleisch steht am Wasserloch. Donna gibt sich nicht damit zufrieden, er reicht ihr Zettel und Stift, fragt erneut. Sie schreibt: Er war nicht im Haus. Oder vielleicht schon. Was weiß ich. Und da ist sie, die Lüge, der Nährboden ihres Schreibens und der Schrift an sich, der Ort, den die wunderliche Autorin tatsächlich ihre Heimat nennt. Der sie beglückt und erweitert, der ihr Freiheit ist, Wind unter den Flügeln. Das Erfinden und Verfälschen. Das Unlesbarmachen der Wirklichkeit. Das klammheimliche Entfernen der Welt aus der Welt, bis da nur noch Umrisse sind, weil dann können die Menschen sterben, in Kriegen oder Bürgerkriegen oder Naturkatastrophen, und es ist egal, denn wenn die Menschen zu ihren eigenen Umrissen gemacht werden, werden bloß noch die Umrisse verletzt und nichts könnte gleichgültiger sein. Schreibt sie lange genug weiter, wird die Welt sich umdrehen, davon geht sie aus, und das rettet zwar nicht unbedingt etwas, aber immerhin wird das unangenehm zähe und lästige Spiel beendet, welches die Spieler spielen, ohne zu wissen, dass sie Spieler sind, und allen ist geholfen, zumindest in ihren eigenen pathologischen Moralvorstellungen. Dabei wollte sie gar nicht viel mehr als ihren verstorbenen Gatten davor bewahren, als Selbstmörder vom Ahnenbaum Beetavilles abgeschnitten zu werden. Und solange es nirgendwo steht, in keiner Zeitung, in keiner Polizeiakte, auf keinem Zettel, so lange ist es nicht wahr. Und mit der Lüge kommt, insofern sie keine Exzellenzlüge ist, das Spekulieren. Das Spekulieren darüber, ob Jeff der Mörder ist oder ob er sich abgesetzt hat, und was genau in dem Haus passiert ist, welches unter so ungeklärten Umständen zu Glut und Asche verfiel. Da aber erst mal keine weiteren Morde folgen, nimmt man an, dass es Jeff war, und genauso, dass er weg ist, oder zumindest tot. Und als lange genug kein Jugendlicher mehr an einen Zaun genäht wird, sind sich alle sicher, dass die Sicherheit wiederhergestellt ist. Zwar sterben ab und an Menschen in Beetaville, die Mordrate hat sich sogar erheblich erhöht in den beiden friedlichen Jahren nach Emilys Tod, doch sind es weitaus fadere Methoden der Mordmechanik, welche auch schnell aufgeklärt werden von Donna und seinem nun fest in der Stadt verankerten Einsatzkommando. Die Menschen sind glücklich. Sollte in diesem Jahr niemand umkommen, dann haben sie es geschafft. Ganz sicher. Also nennen sie die Kirche Emily-Kirche und die Arena Benjamin-Arena und das Diner wird zum Chesley-Diner. Sie haben ihre Buße getan und wie schön es ist.
5.
Miles findet den Hund, der am Eingang der Stadt hängt, geschmacklos. Er schleicht durch die Straßen. Der Wind und der Regen machen ihm die Knochen morsch und das Schwarz seiner Kleidung ist braun und grau geworden. Seine Schuhe sind abgetragen, die Zungen schleifen schlapp über den Asphalt. Nirgends sind Geschäfte zu sehen, kein Zeitungsstand, keine Kneipe oder Krippe. Nur Treppen, die in den Untergrund führen, hinunter zu den Kaufkatakomben.
–Wir werden ja sehen, wie lange du an der Oberfläche bleiben kannst.
lächeln sie ihm entgegen.
–Wie lange die Kraft in deinen Armen reicht, dich wieder und wieder nach oben zu ziehen.
Es wird sich zeigen. Was wichtig wäre, wäre ein Bett. Er kommt am Diner vorbei und bestellt einen doppelten Chesley, außerdem fünf Bier und eine Kanne Kaffee. So baut er sich seine Schlafstätte aus Sättigung. Man bedient ihn misstrauisch. Auch weil er stinkt, schlingt und schüttet. Burger, Bier, heißen Kaffee hinterher, zwei drei scharfe Pommes wie ein Messerschlucker, dann weiter Burger und Bier. Vor ihm auf dem Tisch bildet sich eine kleine Landschaft, vielleicht ein Moor, eine verkommene Ebene aus Essensresten, Speichel, braunen und hellbraunen Flüssigkeiten. Etwas Ketchup. Einen Zahnstocher, das wäre jetzt, also fragt er den Kellner. Selbst ein Zahnstocher, so schmächtig ist der, ein Kellerkellner ist das, denkt sich Miles und mag das Wort. Bobby steht auf dem kleinen Schild an seiner Brust. Soll das darüber ein Gesicht sein?
–Bobby. Bobby, hey!
Dieser hört rituell auf seinen Namen, wofür er schließlich bezahlt wird.
–Bobby, sag mal, was passiert denn, wenn ich nicht bezahlen möchte?
–Dann schreiben wir es auf deine Rechnung.
–Aha.
–Und was, wenn ich diese Bierflaschen hier zum Beispiel in die Auslage mit dem Apfelkuchen schmeiße?
–Dann würden wir das auf deine Rechnung schreiben. Sowohl die Auslage als auch Bier und Apfelkuchen.
–So. Und wenn ich dann mit den Scherben dein dümmliches Maul aufschlitzen würde?
–Dann würde ich die Polizei verständigen.
–Agent Jones?
–Den nun nicht.
–Achso. Verstehe. Aber wenn ich mir also beispielsweise eine dieser theoretischen Scherben nehme und deine Pulsader in zwei Pulsadern verwandle, wie man etwa einen Regenwurm in zwei Regenwürmer verwandelt, mit dem einen Unterschied, dass kein verrücktes Verdopplungsprinzip dahinter steht, sondern ein einfaches Schluss-Aus-Prinzip, würde man dann gegebenenfalls den Agent Jones anrufen?
–Ja.
–Ach schön! Herzlichen Dank für die Auskunft, Bobby.
–Sie könnten mich allerdings auch einfach fragen, ob ich den Agent Jones mal anrufen mag, dass er auf einen Kaffee vorbeikommt. Wenn Sie ihn sprechen wollen. Meine ich. Denn schlafen tut er sowieso nicht und etwas Wirkliches zu tun, naja, das wird er schon haben, aber für Sie macht er sicherlich eine Ausnahme.
–Das würden Sie tun? Ein Telefonat? Für einen Fremden?
–Aber Miles,
und als Bobby das sagt, da verzieht er keine Miene, er spielt die Karte ganz gelassen, und es ist verdammt gut, dass er sie so gelassen spielt, es ist eine Genugtuung, gelassen bleiben zu können in solchen Situationen, dass man dem Gegenüber einfach gar nichts gönnt, einfach gar keinen Einblick geben, das ist das Beste,
–Miles,
sagt er also,
–Sie sind hier doch kein Fremder. Ihr Vater spricht ja andauernd von Ihnen. Immer wenn er gerade nicht darauf achtet, murmelt er Ihren Namen. Dass Sie doch nur herkommen. Jeden Morgen nach dem Aufstehen schaut er als Erstes, ob Sie nun schon da sind, oder immer noch nicht. Dass die Geschichte endlich weitergehen kann. Und nun sind Sie da, und Sie sind so, Sie sind so hübsch, Sie sind auch noch so hübsch, Sie sind der erste hübsche Mensch, den ich persönlich kennenlerne. Hier leben ja nur hässliche Menschen, wissen Sie, doch jetzt sind Sie da, und –
Es ist der Moment, in dem Bobby seine Fassung verliert. Er bricht in Tränen aus. Er wirft sich um Miles, der etwas überfordert ist, der gewohnt ist, dass man auf Drohungen weniger enthusiastischer reagiert, der also recht dämlich daherschaut. Doch tatsächlich, es ist ihm gar nicht aufgefallen, aber alle um ihn sind hässlich. Nicht schlimm hässlich, nicht hässlich wie die Nacht oder Tankstellen, immerhin nicht so hässlich, dass man kotzen muss, aber doch auffallend hässlich.
–Mein Vater hat mich erwähnt?
–Übrigens, das macht dann zweiunddreißig Dollar.
–Inklusive Trinkgeld?
–Exklusive Trinkgeld.
–Achtunddreißig, bitte.
–Danke.
–Donna, beziehungsweise Agent Jones, ich weiß nicht was dir lieber ist, müsste jeden Moment kommen. Rauch doch einfach noch eine oder wirf einen Blick in die Lokalzeitung. Du scheinst nicht gut im Warten zu sein.
Miles findet die Zeitung scheiße. Wie in fast allen Zeitungen sind nur Informationen zum achsoschlimmen Tagesgeschehen zu finden oder Berichte über den lokalen Biber. Doch auf der vorletzten Seite, der Seite vor den meteorologischen Belanglosigkeiten und dem hiesigen Kinoprogramm, welche natürlich der Höhepunkt der Frustration sind, steht ganz unerwartet ganz Fantastisches. Die Guten Nachrichten. Eine Seite voll mit fröhlichen Anekdoten aus Land und Leben, einer Karikatur, einem Kochrezept und Einrichtungstipps, die sich weit absetzen von den üblichen innenarchitektonischen Belästigungen dieser Art.
–Hey, Bobby, Bobby, komm mal her. Hast du das gelesen? Das mit dem Holz und der Farbe?
–Nein, was denn?
–Hier, da steht, dass man, will man echtes Holz irgendwie bunt überstreichen, sich am besten vorher die Finger in einen Mixer steckt.
–Finden Sie das etwa witzig?
–Witzig nicht, nein, ja. Aber jetzt sag doch mal, jetzt, wo wir uns ein bisschen nähergekommen sind.
Bobbys Pupillen erweitern sich.
–Was hat mein Vater denn so gesagt?
–Miles?
Die Glocke über der Glastür schellt leise. Schwingt nach vorn und hinten, der Klöppel in die entgegengesetzte Richtung, schlägt träge gegen das Blech.
–Miles, bist das wirklich du?
Donna ist gerannt, er atmet schwer. Das kurze Haar ist stellenweise grau geworden, man kann die Narben auf der Kopfhaut kaum noch von Alterserscheinungen trennen. Er sieht wirklich aus wie ein Mann um die Fünfundvierzig, was seinen Sohn verwirrt. Denn das letzte Mal, als er ihn gesehen hat, da war er noch jung und gemein. Sein Filzmantel hängt ihm bis in die Kniekehlen, darunter der rote Strickpullover, der am Kragen ausfranst, die Jeans schwarz, die Schuhe hartledern. Schultern hat er praktisch keine mehr.
–Ich lass euch dann mal alleine.
sagt Bobby und versteckt sich hinter einer Zimmerpflanze.
–Mein Sohn.
sagt Donna.
–Vater.
6.
So etwas Jämmerliches wie diesen Mann hat Miles seit Jahren nicht mehr gesehen. Nein, so etwas Jämmerliches hat er noch nie gesehen. Noch nie in seinem Leben ist ihm etwas in allen Belangen so derart Jämmerliches unter die Augen gekommen. Dieser Pullover! Wer macht denn sowas, einen roten Pullover tragen? Ernsthaft. Ausgefranst! Das ist zu viel. Das ist wirklich zu viel für ihn. Donna weiß nicht so recht, warum sein Sohn sich vor Lachen nicht halten kann, und lächelt solidarisch mit. Erst ist es ihm ein wenig unangenehm, aber nach einer Weile muss er ehrlich kichern. Strahlend setzt er sich zu ihm an den Tisch. Aus der Nähe schaut er noch jämmerlicher aus! Das Gesicht, dieses Gesicht, das ist unglaublich. Gelb und eingedrückt wie die Matratze von Heroinabhängigen. Oder die Wand einer öffentlichen Toilette. Oder der Filter einer abgebrannten Zigarette. Oder ein Kondom. Ein uraltes Kondom, welches unter dem Bett vergessen wurde. Der Schwamm in der Gemeinschaftsdusche des Frauenhauses. Halt. Das muss aufhören. Er sollte sich zügeln. Aber eine so jämmerliche Gestalt, das ist nur zum Schreien. Das hält er nicht aus. Was er aber nicht ahnt, ist, dass diese Stadt in diesem Moment dabei ist, dasselbe mit ihm zu tun, ihm genauso alles Frische und Lebendige aus dem Körper zu wirtschaften. Ihn seiner Symmetrie zu berauben.
–Ich hatte Angst, dass du vielleicht böse sein könntest. Weil ich mich nie gemeldet habe, und wegen dieser repressiven Art, mit der ich versucht habe, dich zu dem zu zwingen, was ich selbst nie konnte.
Der Zorn auf seinen Vater hat sich nie beruhigt. Und endlich sitzt er ihm gegenüber, von Angesicht zu Angesicht, kann alles rausschimpfen, was er immer schon rausschimpfen wollte, seit Anbeginn seiner Erinnerungen, die hasserfüllten Monologe halten, welche er wieder und wieder unter der Dusche geprobt hat. Allerdings sagt er
–Ach was. Kein Stück. Ich bin dir nicht böse.
Und ein wenig kichert er noch, doch in dem Moment, da ihm bewusst wird, was er da gesagt hat, lähmt sich sein Gesicht. Er wollte viel eher sagen, dass er ihm bei Gelegenheit einen Schraubenzieher in den Nacken steckt. Doch es gelingt ihm nicht. Es gelingt ihm nicht, seinem Vater zu sagen, warum er eigentlich hier ist, dass er ihn angreifen und vernichten möchte. Ihn seines Platzes verweisen. Doch alles, was er hervorbringt, ist ein freundliches
–Schön, dich zu sehen.
Was allem widerspricht, was er denkt. Er möchte seinem Vater den Himmel zeigen, um ihn darauf hinzuweisen, dass sich die Welt von der Sonne entfernt. Dass wir alle einfrieren werden, dass es qualvoll wird und erbarmungslos unter den Kannibalen. Doch solange er es nicht schafft, ihn dazu zu bringen, hochzuschauen, hilft alles nichts. Gut, er kann es morgen nochmal probieren. Mit dem Hinweisen, dem Sprechen und Herausfordern. Donna lädt ihn auf einen Rum ein. Als wäre es das einzige Getränk, in dem sowohl ein Vater als auch ein Sohn Platz finden.
–Und es tut mir ausgesprochen leid, mein Lieber.
–Ja, Vater?
–Aber die einzige Bar, die überhaupt noch Rum ausschenkt, ist die Bar Scene From Star Wars Bar, also denk bitte nicht, dass ich ein großes Interesse an barbusigen Frauen hätte, das habe ich nämlich nicht, aber es geht um Rum.
Und so sitzen sie da im Rotlicht, zwischen elektronischen Kerzen, jahrzehntealten Popsongs, Salzstangen und Asche, und alles spiegelt sich auf dem glatten Plastiktresen, dass es Miles stickig in die Tränensäcke fährt. Und das Einzige, was dieses Gefühl bekämpft, ist der Alkohol. Der abstoßende Charakter des Städtchen Beetaville ist hier am deutlichsten zu erkennen. Die Tänzerinnen und Tänzer, die ja wirklich jung sind, wirklich absolut junge Dinger sind, schauen schrecklich hässlich aus. Ihre Brüste, ihre Haare, die Übergänge von Hüfte zu Bein, ihre Bäuche und Schwänze, wie Insekten schauen sie aus. Dann die Luft. Tausende Male ein- und ausgeatmet. Selbst die Luft im Freien, selbst die Nachtluft. Es fühlt sich an, als wären Mundhöhle und Hände, als wären alle Sinnesorgane mit Frischhaltefolie überzogen. Immer ist etwas Dünnes, Ekliges zwischen dem Körper und der Umwelt. Auch die etlichen Gläser Rum, die Donna und Miles schweigend in sich reinschütten, hinterlassen nichts als ein dumpfes Kratzen. Dabei blicken die beiden sich vielleicht manchmal an und warten darauf, dass der andere so betrunken wird, dass sich das Gespräch lockert. Oder dass jemand vom Hocker fällt. Oder dass ein Gast übergriffig wird, dass es gilt, heldenhaft einzugreifen. Dass vielleicht eine Freundschaft entsteht zwischen zum Beispiel der neunfingrigen Stripperin und Miles. Sie könnten sich kennenlernen, Namen und Adressen austauschen.
–Miranda.
würde sie sagen. Und zwar mit einer Stimme aus Schmutz und Schnaps. Miles würde in ihre Umkleidekabine gehen, und unter all dem Make-up wäre ein Veilchen, sie würde nackt sein, fast, nichts als ein Höschen tragen, aber es wäre ihr nicht wichtig, es würde ihr gar nicht auffallen, dass sie entblößt ist. Sie würde rauchen, hastig ziehen, und ihre Wangenknochen würden hervorstehen wie Felsen. Miles würde einen botanischen Witz über das Veilchen machen. Miranda würde nicht lachen, ihn aber wertschätzen, den Versuch. Miles würde sie fragen, warum sie bloß noch neun Finger hat.
–Eine Hommage.
Und obwohl sie sich gibt wie Eis, würde er zu ihr durchkommen. Sie würden gemeinsam in den kleinen Spiegel mit dem Glühbirnenkranz um sie herum sehen, und irgendwann würde Miranda lächeln. In diesem Moment würde ihr bewusst werden, dass sie nackt ist, und sie würde rot werden, sich schämen, seit Jahren das erste Mal schämen, und es würde ihr gefallen. Sie würde sich etwas überziehen und Miles würde sie bitten, mit ihm Essen zu gehen.
–Wohin denn? Es gibt ja bloß das Diner.
Natürlich würde er ihr Blumen kaufen, und natürlich würden es Veilchen sein, und natürlich würden sie sich ineinander verlieben und gemeinsam die Stadt verlassen. Und mit der Zeit würden sie zu sehr schönen Menschen werden. Doch die Gäste hier sind gut erzogen und niemand wird übergriffig, sodass Miles und sein Vater weiterhin dasitzen, unheldenhaft, und trinken, unter den mitleidigen Blicken der Barfrau.
–Agent Jones. Noch einen?
–Es reicht.
Sie packen ihre Sachen, beide körperlich und geistig derart unbelastet von der Sauferei, dass es ihnen Angst vor sich selbst einjagt. Immerhin weiß ich jetzt, von wem ich das habe. Sie bestellen sich ein Taxi und fahren ins L'Otel Chacal, wo Donna nun schon seit einer Weile wohnt. Sein Zimmer ist klein und die Tapete löst sich langsam von den Wänden. Unter der Tapete ein Sperrholz-Betongemisch, braun, grün und dunkel. Donna macht sich das Sofa zurecht, sein Sohn schläft im Bett. Miles wirft einen Blick in den Kühlschrank. Miller und Milch, eine Gallone O-Saft, Avocado, Senf.
–Hast du Brot da?
–Toast ist unter der Spüle.
–Danke.
–Stört es dich, wenn ich noch etwas lese?
–Kein Problem.
–Was liest du denn?
–Kennst du nicht. So ein Buch von so einer Autorin, kennst du nicht.
–Wahrscheinlich nicht, nein.
–Na, dann ist es doch auch egal.
–In Beetaville lebt auch eine ziemlich erfolgreiche Autorin.
–Aha.
–Ja.
–Herzlichen Glückwunsch.
Kurz sagt keiner etwas, dann geht Donna duschen. Sie putzen ihre Zähne, legen sich schlafen. Donna schaltet das Licht aus.
–Miles. Was meinst du, holen sich die Bulls wieder die Meisterschaft? Die haben einen unglaublichen Kader. Eine Ausnahmemannschaft. Harper, Kerr, Pippen. Eine Ausnahmemannschaft.
Miles tut so, als würde er schlafen, er geht möglichst präzise und verletzende Formulierungen durch, die er seinem Vater an den Kopf werfen könnte. Aber das ist schon wieder so eine Frechheit. Und es passt so zu seinem Vater. Dass er in diesem Zusammenhang nicht Michael Jordan nennt. Als hätte der nichts damit zu tun. Und Dennis Rodman, was war mit dem? War sich Donna zu fein dafür, seinen Namen in den Mund zu nehmen? Wie er seinen Vater dafür hasst, ein Feigling zu sein, wirklich in jeder Situation ein Feigling zu sein, nie für etwas einzustehen. Selbst für die eigene Meinung nicht. Immer den Umweg gehen. Immer unangreifbar machen. Immer verstecken. Seine Gedanken werden kleiner, böser und verwandeln sich in fiebrige Geometrie, die alle Oberflächen seines Wachseins verdrängt. Donna liegt wach neben ihm.
7.
Am nächsten Morgen beginnt Miles damit, sich einzuleben. Doch auf alle Fragen, deren korrekte Beantwortung einen schönen Tag bedeuten würde, bekommt er die Antwort, es im Darkmart zu probieren. Dort könne man frühstücken, sich Bücher ausleihen sowie Filme auf großen Leinwänden schauen. Selbst der schönste Teil des herbstlichen Waldes befände sich im Darkmart.
–Dann gehe ich eben ins Diner auf ein paar Pancakes.
–Das kannst du natürlich machen. Aber die öffnen erst um zwölf Uhr.
–Und wie spät ist es?
–Ich muss los. Ich muss zur Arbeit. Hier hast du einen Hausschlüssel, und der ist für das Schloss am Fahrrad.
–Fahrrad, wer fährt denn heute noch Fahrrad?
–Es steht in der Garage.
Also verbringt Miles den Morgen in Pedalen, von wegen drei Gang, die fahren sich alle wie einer. Als würde er in ein Mühlrad treten, so fühlt sich das an. Auf dem Parkplatz eines geschlossenen Einkaufszentrums übt er, freihändig zu fahren. Das Industriegebiet ist eine Ruine. Um ihn niemand. Es ist wirklich kalt, und als er hinfällt, frieren ihm die offenen Wunden sofort wieder zu, doch hört er nicht auf, zu üben und die Hände vom Lenker zu strecken, auf den Rücken oder in die Luft. Und dann hat er es raus, und er fährt freihändig weiter, erst singt er leise, dann immer lauter, er will Krach machen, nichts weiter; was er da singt, das weiß er nicht, nur laut soll es sein. Manchmal hat er das Gefühl, älter zu werden, und manchmal denkt er, dass die Zeit überhaupt nicht weitergeht, dann wieder scheint es ihm, als ob er jeden Morgen jünger wird. Seine Oberschenkel schmerzen und er fühlt seinen Körper, jeden Liter Blut, wie es ihn ausfüllt. Er denkt an Pancakes und Blaubeeren. An Ahornsirup. An Ahornsirup und Jameson. Er strahlt in die Luft. Die Bäume, der Beton, die Markierungen für Hunderte von Autos, ungenutzte Gefängnisse und meterhohe Laternen vor dem Morgenhimmel, der Wind, das Blattgold, das Laubgold. Diese verrückten kanadischen Iren. Es gibt sie, die reinen Herzen. Die jetzt vielleicht in Montreal an einer Tankstelle sitzen und Kaffee trinken, dabei rauchen und sich heimlich noch einen weiteren Schluck Kondensmilch in die Pappbecher schütten. Auch sie würden strahlen. Die kleine Gin MacAdler auf dem Arm, die sich längst an ihre neuen Eltern gewöhnt hat. An diese wunderbare Liebe, die ihr geschenkt wird. Mit welcher Sorgfalt man sich um sie kümmert. Einen Bus voller Eltern für sie alleine. Miles kauft sich die aktuelle Ausgabe der New England Times und blättert sofort zu den Guten Nachrichten. Da stehen einfach nur Großartigkeiten drin. Auch die Geschichte von der jungen Studentin aus Maine, welche ihr Kind nicht am Kinderwagen angeschlossen hatte. Und das Tolle an dem Artikel ist, dass er seinen Hohn nicht versteckt. Dann eine Rezension zum vierten Chesley & the Holy Chain-Album Graves & Lithographies, welches zwar nicht an den herausragenden Zweitling Church Music rankommt, doch aber die Enttäuschung des Dritten etwas lindert. Die Musik hat zu einer eigentümlichen Ruhe gefunden. Wo auf den vorherigen Alben die Wut und der Schmerz noch ungefiltert auf Instrumente übertragen wurden, wo die Sprache den Horror explizit beschrieb, da sind nun Leerstellen oder Platzhalter, Feigenblätter, die auf den Horror verweisen. Am deutlichsten wird das in der einundzwanzigminütigen Soundcollage Portrait D'une Jeune Fille Sans Bijoux, in welchem die akribische Beschreibung eines romantischen Bildes des 17. Jahrhunderts mit allen Moll-Akkorden im Klangspektrum einer Harfe verschnitten sind. Aber darunter liegt nicht etwa ein Krach oder das Geräusch einer Kreissäge auf Knochen, wie man es von Chesley & the Holy Chain kennt, nein, darunter hört man das Geräusch von der Herstellung eines Bilderrahmens. Auch der Comic aus der Reihe Vita Diminutiva weiß zu überzeugen. Der Protagonist, dessen Erkennungsmerkmale seine Brille und der Ringelpullover sind, steht auf einem Rasen und schaut in den Himmel. Er fragt
–Gott, wenn ich sterben muss, stirbst du dann auch?
Und dann ist da eine Sprechblase, die aus dem Himmel kommt und in der steht
–Nein.
Aber der Höhepunkt der heutigen Ausgabe ist der Artikel über einen Junggesellen, der seit über fünfzehn Jahren Junggeselle und dessen Leibspeise Spiegelei ist. Der sich jeden Morgen ein Spiegelei brät und es seit gestandenen fünfzehn Jahren nicht hinbekommen hat, das Spiegelei zu braten, ohne dass ihm das Eigelb zerläuft. Er ist mit Bild und Namen abgedruckt, doch Miles vergisst beides sofort. Natürlich bestellt er sich im Diner gleich ein Spiegelei.
–Ach was, mach drei draus.
Und während das Eigelb ihm die Mundhöhle verklebt und sich über den Zahnschmelz legt, während das Eigelb zwischen seine Zähne fließt, den Gaumen hinunter, zähflüssig wie es ist, während es seine Zunge in ein taubes Stück Fleisch verwandelt, kurz: während das Eigelb seinen Mund egalitär macht, denkt er erneut darüber nach, wie er seinen Vater demütigen könnte. Er malt sich Szenarien aus. Sitzt da und isst, manchmal fröhlich glucksend, und desto näher sie sich nun kommen, desto aufrichtiger die Vaterliebe wieder wird, umso größer der Fall. Umso tiefer die Wunden. Natürlich will er die Person kennenlernen, die für die Guten Nachrichten zuständig ist. Die Redaktion ist etwas außerhalb in einem verfallenen Haus. Immerhin nicht da unten in den Katakomben, denkt sich Miles. Am Empfang erfragt er sich den Namen, den er sucht. Der nur als Kürzel auf der Seite stand.
–M.C., das steht für Meggy Corey.
sagt der Sekretär und drückt sich einen Kugelschreiber in die Hüfte, um sich vom Missmut, der mit diesem Namen verbunden ist, abzulenken.
–Da müssen Sie ins Dachgeschoss.
–Corey. Soso, ja, naja, dann werd ich mal.
Corey. Den Namen hatte er doch schon mal irgendwo? Wie dem auch sei. Alles schaut aus, wie er sich Zeitungsredaktionen immer vorgestellt hat. Menschen in teuren Anzügen und Kleidern sitzen herum in Vollholzmöbeln, streicheln sich, haben Karten in ihre Hüte gesteckt, alternativ Federn, Broschen, Klimbim, küssen sich gegenseitig ab und an auf die Geschlechtsteile und verspeisen Importwaren.
–Ein Haufen Geckos seid ihr!
traut er sich nicht zu sagen. Aber zu denken, das traut er sich. Denn zu denken traut er sich manches.
8.
Miles klopft an die Tür der Dachkammer und eine kleine dicke Frau, vielleicht eher ein Mädchen, er ist sich nicht sicher, öffnet.
–Was wollen Sie von mir?
–Ich, ä, also.
–Was Sie wollen, habe ich gefragt.
Sie beginnt ihn zu schütteln.
–Was Sie wollen!
–Hilfe!
Miles ist verwirrt. Er steht unter Schock.
–Also, was wollen Sie? Wollen Sie sich über mich lustig machen? Sind Sie von der Gewerkschaft?
–Nein, nein, ich. Nein. Also, nein, bin ich nicht. Ich bin bloß gekommen, weil, also man mir, ä.
–Meine Güte, nun beherrschen Sie sich doch!
–Man hat mir gesagt, also sind Sie für die Guten Nachrichten zuständig?
–Das bin ich.
–Weil –
–Na los, kommen Sie schon, bringen Sie ihren Witz und verschwinden Sie. Ich bin es leid.
–Wie was, nein, ich wollte Ihnen nur meinen tiefsten Respekt zollen.
–Ihren was?
–Meinen tiefsten Respekt.
–Weil, wissen Sie, ich habe schwierige zweiundzwanzig Stunden hinter mir, und wenn es Ihre Arbeit nicht gegeben hätte, wer weiß, was aus mir geworden wäre. Die Guten Nachrichten haben mich aufgemuntert, und haben mir Kraft gegeben, waren wie eine Schwester für mich.
–Meggy Corey. Freut mich.
–Miles Jones.
–Jones, wie in Donna Jones?
–Genau.
–Sie sind aber nicht der Miles, also Miles Jones?
–Doch. Und wie kommt es eigentlich, dass mich jeder kennt? Und ich niemanden?
–Weil Donna eine entscheidende Position in Beetaville eingenommen hat und es gut ist, mehr über Menschen in entscheidenden Positionen zu wissen, solange man ihnen nicht traut. Das Leben hier hat sich in den letzten vier Jahren verändert, wissen Sie. Die Stadt hat sich verändert, und deswegen brauchen wir Donna. Er ist so etwas wie ein zweiter Bürgermeister oder Sheriff. Er beschützt die Menschen, oder zumindest denken sie, dass er sie beschützt. Ich bin mir da nicht gänzlich sicher.
–Wie meinen Sie das?
–Naja, Agent Jones hat Macht erlangt, und Macht macht Menschen ohne Ausnahme scheiße.
–Achso. Stimmt.
–Außerdem leben wir anscheinend in einer Welt, in der Handlungen Konsequenzen haben, Donna aber keine zieht. Weswegen er die Morde nicht aufklären wird. Manchmal scheint es, als würde er tatsächlich denken, dass es Jeff Cello war. Wissen Sie, was ich meine?
–Absolut nicht.
Meggy hatte zwar auf die exakt gegenteilige Antwort gehofft, bietet Miles aber trotzdem ein Stück Schokolade an.
–Schokolade?
–Gern. Aber wie meinen Sie das denn? Was Sie da gerade eben gesagt haben.
–Sie haben von den Morden gehört, die hier vor zwei Jahren –
–Sicher.
–Da war ich ein wenig, also ich habe mich da eher als ein Detektiv gesehen und anstatt den Fall zu lösen, es ist ja auch nicht so wichtig, es hatte etwas mit einem Knäuel zu tun und mit Mystik, auf jeden Fall bin ich gut unterrichtet, was die Sache angeht. Und der Herr Cello, der war das eben nicht.
–Was wollen Sie eigentlich?
–Wohnen Sie jetzt hier?
–Ja, bei meinem Vater.
–Ausgerechnet beim Schwein!
–Langsam habe ich aber schon das Gefühl, dass Sie entschieden etwas gegen meinen Vater haben, ganz konkret etwas gegen meinen Vater, und nicht gegen Macht als solche.
–Weil, genau, es ist so, er hat mit meiner Mutter geschlafen und das finde ich, ist das Entsetzlichste, was ich mir vorstellen kann.
–Okay. Verstehe. Ja, da wäre ich auch nicht gut auf ihn zu sprechen. Wobei, naja, mich hätte es gefreut, wenn er mehr mit meiner Mutter geschlafen hätte.
Sie lacht.
–Seit wann arbeitest du hier?
–Ich habe direkt nach meinem High School-Abschluss angefangen.
Müde wird Miles von seinem Gehirn an eine Frau namens Kate erinnert, an ein paar graue Augen, welche ihm einmal von einer Tochter erzählten, die bei einer Zeitung arbeitet. Eine gute Eigenschaft ist es, nicht nach Nachnamen zu fragen, fällt Miles wieder an sich selber auf. Oder wie hieß sie gleich?
–Also, was wollen Sie machen?
–Ich werde so lange hier bleiben, bis ich meinen Vater ernsthaft verletzt habe, oder er meinetwegen schwermütig wird.
–Wenn Sie Hilfe bei einem Plan brauchen, geben Sie Laut. Im Übrigen sollten wir aufhören, uns zu siezen.
Dieser Vorschlag macht Miles zwar traurig, denn er liebt Höflichkeit in all ihren schimmernden Auslegungen, doch wäre es unhöflich abzulehnen.
–Gern.
–Komm mich doch einfach von nun an jeden Tag besuchen.
–Ist gut.
–Oder wenn du mal auf meiner Couch –?
Und wie das Licht in den Dachboden fällt und die Staubkörner betont in ihrem ziellosen Umherirren, das gefällt Miles. Und Meggy gefällt es auch.
9.
Und es ist dasselbe Licht, welches Donna störend in seinen Blick fällt. Er steht vor einer lebensgroßen Imitation von Bill Cosby, einer Puppe mit leeren Augen, steifen Gliedern und einer viel zu bunten Strickjacke. Sie wurde aufwändig an einen Zaun genäht. Das Halsgelenk eingeknickt. Sie starrt Donna und seine Kollegen an, sie grinst. Man hat ihr ein Grinsen ins Gesicht gemalt. Es ist, als könnten sie Bill Cosbys Stimme hören, diese einzigartige Stimme, die sich in jeder Silbe überschlagen kann. Bald, meine Lieben. Und dazu sein herzliches Gelächter, das alle Bewohner der Stadt zum Schweigen zwingt. Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas vorkommt. Dass jemand eine Widmung an einen Zaun näht. In Erinnerung an die harten Zeiten. Zu Halloween sowieso. Dass die Leute nachts rausgehen, die Leute, die es verdient haben, betrunken zu sein, und dem Vollstricker in einer Mischung aus Furcht und Ehrfurcht nacheifern. Nur eins ist bei dieser Puppe anders. Die Bill Cosby-Information ist nie an die Öffentlichkeit gelangt. Was heißt, dass hier entweder jemand sein Unwesen getrieben hat, der mit dem Fall vertraut ist, man könnte auch auf einen der drei Jungen tippen, die ihn gefunden haben, oder, oder aber. Oder aber es war der Vollstricker selbst, der zurückgekommen ist in die Stadt. Der auf der Suche nach einem neuen Opfer ist. Der Fundort des Dummys wird weiträumig abgesperrt und man durchforstet den Forst. Doch es lässt sich nichts finden. Nichts, was zumindest auf irgendetwas schließen ließe. Donna will die High School sperren lassen. Doch die High School glaubt nicht an ihr Unglück. Nicht schon wieder.
–Es gibt keine Gefahr, nein, gibt es nicht, niemand ist in Gefahr. Wirklich nicht.
–Ihr Idioten, ihr riskiert das –
Aufgelegt. Donna fühlt sich wie Martin Brody aus Der Weiße Hai, spricht aber mit niemandem über dieses Gefühl. Denn ein wenig schämt er sich dafür. Er hatte immer gehofft, dass irgendwann der Moment kommt, in dem er sich fühlt wie Philip Marlowe. Vielleicht weil er so sein möchte wie Humphrey Bogart, aber mindestens weil er so sein möchte wie Robert Mitchum. Übrigens eine der vielen Gemeinsamkeiten, die er mit Meggy teilt. Bloß, dass für Meggy Mitchum klar an erster Stelle steht. Dann Bogart. Dann Joan Crawford. Und wenn Mitchum, dann natürlich Reverend Harry Powell aus The Night of the Hunter, mit Klappmesser und falscher Predigt. Donna und Miles essen abermals gemeinsam im Diner zu Abend. Bobby sucht Blickkontakt.
–Dafür, dass du erst seit gestern hier bist, saßt du schon ziemlich häufig an diesem Tisch.
–Und?
–Ich meine, schmeckt dir das Essen so gut, oder –
–Das Essen.
Und ein Blick, der eindeutig macht: das Essen und ganz bestimmt nicht deine Fresse. Im Radio läuft Madonna. Irgendetwas von Madonna, wie ja eigentlich seit Jahrzehnten nichts anderes mehr im Radio läuft außer Madonna. Madonna, die vor einem Bluescreen steht und nicht älter wird, wie sie reflexhaft, fast mechanisch, ein Blinzeln, ihre Hüften bewegt. Hinter ihr Großstädte im Zeitraffer. Lichtpunkte, die zu Streifen werden oder einer Flagge im nukleosynthetischen Wind.
–Bobby, könntest du den Sender wechseln?
–Verzeihung, aber wir kriegen nur den einen rein. Außerdem mag ich das neue Album.
Donna fragt seinen Sohn, warum er gestern so lachen musste, als er ihn gesehen hat. Und dieser antwortet, dass er sich derart freute. Und möchte entschieden lieber tot sein als weiterhin lebendig. Der Vater lächelt. Er hatte Angst, er hatte wirkliche Angst davor, dass sein Sohn ihm böse sein könnte. Jetzt macht er alles wieder gut. Jetzt wird alles gereinigt. Sein Messer stumpft Schnitt für Schnitt auf dem Porzellan ab. Der Topinambur-Bratling wird kleiner. Unbewusst schneidet Donna sein Essen in kleine Rauten, Rauten, die zusammengelegt einen Zaun ergeben könnten. Miles fragt ihn, ob heute irgendetwas auf der Arbeit los gewesen sei, und Donna will ihn nur anschreien und sein Gesicht auseinanderreißen, merkt aber schnell, dass er seinen Frust lieber mit sich selbst ausmachen sollte. Dass das etwas ist, was ein guter Vater tut, und das hatte er sich vorgenommen zu werden, ein guter Vater. Und deshalb, und das beeindruckt ihn selbst, das beeindruckt ihn sogar ziemlich, deshalb sagt er ihm die Wahrheit. Er berichtet vom Tag, ehrlich, und davon, wie seine Kollegen stets ekelhaftes Zeug essen wollen, und wie er es hasst und wie er das Gefühl hasst, in seinem Magen wäre ein Massengrab politischer Flüchtlinge, und wie es ihm dabei ging, diese Bill Cosby-Puppe zu sehen und die Erinnerungen an die dahingeschlachteten Kinder. Wie er die Bilder nicht losgeworden ist, für so lange Zeit, und dass sie jetzt wieder da sind. Er erzählt von einer Schuld, die er nicht mehr ablegen kann, wie sie ihm die Gedanken schwarz macht, und von Emily Hays Beerdigung, auf der man ihn mit einer Schaufel bedrohte. Auf der man ihn verfluchte und mit Erde beschmiss. Wie er zusammengeschlagen wurde mit der Urne, der Geschmack von Emily Hays Asche auf seiner Zunge, wie sie gebrannt hat in seinen Augen. Er erzählt seinem Sohn von Nataly, der Schwester, und der Verachtung, die man ihm entgegenbrachte. Natalys Blick, den er nicht vergessen kann.
–Sie sahen alle so fertig aus, und vielleicht wären ihre Leben besser, wenn ein anderer, meiner statt, in die Stadt gekommen wäre. Vielleicht hätte jemand den Fall lösen können, bevor das Mädchen starb.
Unbewusst hat Donna die Tischdecke in seine Faust geklammert, die sich nun zusammenzieht, der Griff so stark, dass er seine eigene kleine, rasch anwachsende Schwerkraft besitzt. Seine Faust so verkrampft, dass sie ein Schwarzes Loch wird und alles in sich hineinzieht. Langsam. Den Kaffeelöffel, den Salzstreuer, die Tasse, die Untertasse. Donnas Teller ist komplett, die Tischdecke selbst nun auch, verschwunden, die Ketchupflasche, die Fensterscheibe biegt sich nach innen, beginnt nachzugeben, zersplittert und wird in seine Faust gesogen, genauso die Theke, Bobby, der Grill, weitere Gäste, alles verschwindet in Donnas Faust. Miles versucht zu fliehen, hält sich am Türrahmen fest, das halbe Diner weggerissen, Donna weint und die Tränen des Vaters und die Augen des Vaters implodieren, sein Gesicht, sein Schädel, seine Eingeweide schlängeln sich aus dem Torso in seine Faust. Miles brüllt ihn an, fleht ihn an, es zu stoppen, doch es gibt seinen Vater nicht mehr. An den Rändern des Schwarzen Lochs bricht das Bild der Stadt optisch. Miles verliert den Halt, es gibt keinen Halt mehr. Schließlich ist alles verschwunden. Und Miles findet sich wieder in einem Raum, in dem es keinen Raum mehr gibt und keine Zeit. Ein wütender rothaariger Junge und ein einäugiges Mädchen lachen ihn aus. Zeigen mit hundert Fingern auf ihn.
–Lass es einfach sein, Miles. Alles ist okay, wie es ist.
–Was, was sein lassen?
–Tu es nicht.
Und schon sind sie weg. Miles versucht, den würzig angebratenen Kartoffelspat mit einem Schluck Bier hinunterzuspülen. Er hat sich verschluckt. Er hustet. Trinkt einen weiteren Schluck Bier und beruhigt sich mit Kaffee. Auch wenn der Juckreiz noch nicht ganz weg ist aus der Speiseröhre.
–Ich werde dir mit dem Fall helfen, Vater. Weil, also ich habe das Gefühl, dass ich dir mit dem Fall helfen könnte. Und ich habe gerade nichts anderes zu tun, also nicht wirklich, also kann ich dir genauso gut helfen. Oder?
–Ich weiß nicht. Ich will dich da nicht reinziehen.
–Aber es geht dir nicht gut. Das merke ich doch. Lass mich dir helfen.
–Was willst du denn machen?
–Das spielt keine Rolle. Ich will einfach nicht, dass du traurig bist.
–Miles? Das. Das würdest du tun?
–Natürlich.
–Dann ist morgen dein erster Arbeitstag.
10.
Heute ist Miles’ erster Arbeitstag. Er stellt sich den Kollegen vor. Manche haben ihn schon gesehen im L'Otel Chacal.
–Zunächst waren es hier ja bloß zwei Etagen, die wir eingenommen hatten, nun ist es das gesamte Hotel.
Was nicht viel mehr heißt, als dass die Ermittler das Erdgeschoss noch dazu gemietet haben. Der Besitzer ist immer noch da. Er kümmert sich um seine Gäste, wechselt das Bettzeug an jedem Sonntagnachmittag und bereitet morgens Frühstück. Manchmal steht er auch für Stunden an der Hotelbar und hört sich das Leid der Agenten und Agentinnen an, die frustriert sind, klar, einsam, natürlich, alt so langsam, versteht sich, und unterbezahlt, aber wie.
–Weißt du, Finley.
so beginnen all ihre Sätze, und desto später der Abend, desto mehr Fin, und umso weniger ley.
–Es ist nicht einfach.
Die Agentinnen und Agenten tun gerne so, als wäre Finley ein britischer Hotelbesitzer, dabei ist er aus dem mittleren Westen, wie schlicht alle Menschen aus dem mittleren Westen sind. Keiner kommt aus dem guten Westen und keiner aus dem schlechten Westen. Die sind woanders. Die sind im Knast oder auf der Kirmes oder in der Kirche.
–Weißt du, Finley, ich mag dich ja, ich mag dich ja echt, aber kannst du nächsten Sonntag bitte etwas später kommen zum Bettwäschewechsel? Ich muss so dringend ausschlafen. Ich muss so unglaublich dringend und unbedingt ausschlafen. Ich habe so einen dünnen Schlaf. So einen mageren Schlaf, einen anorexischen Schlaf habe ich, Finley, und jedes Mal wenn du dann reinkommst, und wie spät wird das wohl sein, ich meine, wann kommst du denn dann ins Zimmer? Lass das mal neun Uhr sein oder spätestens zehn. Verdammt, das ist zu früh, Finley. Komm doch bitte frühestens, also allerfrühestens um elf, das wäre so schön. Das wäre so schön! Oder nicht, Finley?!
–Ja und Amen.
Ja und Amen zu allem, was einen Betrunkene mit gezogener Waffe fragen. Miles liebt es, dass er jetzt Kollegen hat. In seinen Gedanken nennt er sie Kumpel und feiert seinen zwanzigsten Geburtstag unter Tage im Schacht. Er sieht den Champagner schon, wie er über die Kohle fließt, in die Kehlen im Licht der Gaslampe, und alle haben sie Atemprobleme, Staublungen, Revolverhände und freie Oberkörper. Dreck und Muskeln überall, so viel Dreck und so viele Muskeln, dass man zwischen den Geschlechtern kaum unterscheiden kann. Und sie husten und prosten sich gegenseitig in die Rippen und schlagen mit schwerem Werkzeug Steinwände. Und das ergibt einen Rhythmus und einen Takt und Funken.
–Kollegen, Kumpels, ihr habt mich aufgenommen, als einen von euch.
–Und darauf trinken wir!
–Jawoll!
–Hoch lebe Miles!
–Zum Zwanzigsten!
–Wärme und Nähe und Liebe!
–Auf dass er nicht mehr allein sei!
–Auf dass er endlich nicht mehr so verdammt allein sei!
–Darauf trinken wir!
Kurz hinter den Tagträumen wird ihm klar, dass er für seinen Vater arbeitet. Dass er nach Beetaville gezogen ist und für seinen Vater arbeitet. Es ist das Jahr des Scheiterns. Das Jahr des Sichgeschlagengebens. Er wird nie ehrlich sein. Er wird sich mehr und mehr verschließen. Er wird sich Gedanken aneignen und sie mit Meinungen bedecken. Alles ist falsch und wird falsch bleiben. Es ist das Jahr der einfachen Lüge. Das Ende der Nichtstuerei.
11.
–Wann war denn Geschicklichkeit wichtiger geworden als Schicklichkeit?
–Es war ungefähr zu der Zeit, als Formulierlust synonym zu Formlust wurde und wichtiger als das Erzählen.
schmettert ihm Meggy zurück. Die neue Ausgabe der New England Times in den Händen. In der Mittagspause kommt er sie besuchen. Sie essen gemeinsam.
–Du arbeitest also für deinen Vater. Als wäre es das Schlimmste der Welt. Als hätte er deine Mutter skalpiert und deine Schwester gefangengenommen. Und wenn du dich immer noch rächen willst, mein Angebot steht. Wir machen einen investigativen Artikel gegen ihn. In einer Sonderausgabe. Was alles schiefläuft bei den Ermittlungen, wie die Steuergelder verschleudert werden, schlafende V-Männer, perverse Gerichtsmediziner, das volle Programm.
–Ist gut.
Während Meggy das sagt und während sich Miles vorstellt, was perverse Gerichtsmediziner machen, fährt sie ihm fast unmerklich mit dem Rücken des Mittelfingers über seinen Unterarm.
–Prostituierte wären gut.
–Wie?
Er verschränkt die Arme.
–Prostituierte?
–Wenn Prostituierte von Steuergeldern bezahlt werden würden, das wäre auch gut.
–Wir waren mal in der Nacktbar. Donna und ich.
–So?
Meggy knöpft sich ihre Bluse auf und zeigt Miles ihre Brüste.
–Ja, ungefähr so.
–Also ich wollte fragen, ob du nicht mit mir schlafen möchtest?
–Nein.
Kurz spricht niemand. Aber es ist nicht unangenehm. Ganz im Gegenteil. Miles freut sich, dass er begehrt wird, und Meggy freut sich, dass Miles ehrlich mit ihr ist. Dann wird sie eben Geld dafür bezahlen, dass jemand mit ihr schläft. Ist auch schön. Und so hätten sie die erotische Frage geklärt und können nun tolle Freunde werden. Zum Abschied gibt ihr Miles trotzdem einen Kuss auf die Wange. Aus Höflichkeit ihrer Lust gegenüber.
12.
Meggy bestellt sich einen exotischen Stricher nach Hause. Für ein kleines Trinkgeld schläft er mit ihr in der Küche. Die Kacheln sind zwar kalt, aber Meggy hatte eine Fußbodenheizung einbauen lassen. Sie beginnt breitbeinig niedergestreckt auf dem alten Holztisch, um sich später in Missionarsstellung beenden zu lassen. Er kommt nicht, streichelt ihr über das verschwitzte Gesicht, nimmt sich den Briefumschlag, der wie verabredet neben dem kleinen Schälchen mit Schlüsseln, Haarspangen, Streichhölzern und Gummibändern liegt, und geht. Bevor er die Haustür hinter sich zuzieht, ruft er Meggy noch etwas zu, doch sie versteht ihn nicht genau.
–Ciao, war schön.
oder
–Danke.
oder
–Bitte.
Sie bleibt liegen. Nicht nackt, den Rock bloß hochgezogen und die Bluse so weit über den Brüsten, dass man die Brustwarzen sehen kann. Hat er das Kondom mitgenommen? Oder hat er es hier weggeschmissen. Sie rollt sich rüber zum Kühlschrank, isst zwei rohe Eier, einen Müsliriegel, Schokolade und dreht den Schraubverschluss vom Hals einer Flasche Samuel Adams. Sie legt die Flasche ganz vorsichtig an den Rand ihrer Lippen und kippt sich das Bier langsam in den Mundraum. Schluck für Schluck sickert es in sie hinein. Ein Tropfen läuft ihr über die Wange knapp am Ohr vorbei in den Nacken. Die Lampe an der Decke hat Mutter ausgewählt. Morgen wird sie sich eine neue kaufen, oder besser eine alte. Eine alte Schöne. Sie schläft ein. Sie träumt davon, dass eine zu Eis gewordene Wolke vom Himmel fällt, auf sie herab, auf Bauch und Schenkel. Wie sie beginnt, sich mit der Wolke vollzustopfen. Und wacht auf. Verärgert zieht Meggy sich ihre Unterwäsche wieder an, räumt die Küche auf, findet sich sentimental, schleift sich durch den Flur Richtung Bett. Sie ist benommen, stößt sich an der Türklinke und flucht leise. Ihr Gang ist breit und plump, sie stampft wie autistische Braunbären. Ein dünner Streifen Helligkeit fährt aus ihrem Arbeitszimmer über den Flur. Hatte sie vergessen, das Licht auszuschalten? Sie öffnet die Tür und es blendet sie. Aber wie sie gerade mit der Bierflasche, die sie wie Christopher Robin seinen Pooh-Bär hinter sich herschleift, nach der kahlen Glühbirne werfen will, da wird sie gefangengenommen von einem Blick, welchen sie bewusst seit etlichen Jahren, sicher seit ihrer Kindheit nicht mehr geworfen hat. Warum es ihr auffällt, jetzt, das kann sie sich nicht erklären, doch es fällt ihr auf, sie sieht es als das, was es ist, versteckt und deutlich. Denn mit den Jahren wurden die Wände ihres Zimmers mehr und mehr zu Notizheften, um das eben neu gefundene Zentrum ihrer Beachtung sammelten sich Hunderte von Zeitungsseiten, Fotos und Bemerkungen, welche sie an ihre Wand getackert hat. Bis über den Rand der Decke häuft sich das Material. Manche Schlagwörter unterstrichen, in verschiedenen Farben eingekreist, verbunden mit Stecknadeln und Bindfäden, Artikel aus dem Hatred, der New England Times und diversen überregionalen Magazinen und Tagesblättern. Alles, was sie zu den Verbrechen des Vollstrickers finden konnte. Trittbretttäter in mittelgroßen Kleinstädten, in Ohio und North Dakota, in Minnesota, biblische Verschwörungstheorien, Jesusvergleiche und verwackelte Aufnahmen eines angeblichen Täters, welcher mit Hammer, Nadel und Faden an einer Autobahnausfahrt zur Route 50 in Jefferson City, Missouri erwischt wurde, der die Morde sogar gestand, die Tathergänge allerdings nicht ansatzweise rekonstruieren konnte, ein Wichtigtuer, diverse soziotheoretische Arbeiten zur Inszenierung des Todes und der Frage nach zeitgenössischen Opferritualen in Massenmedien und schließlich makabre Untergrundcomics und Hardcore-pornographisches Material, in welchem die schrecklich jungen Opfer nicht nur gefoltert und misshandelt, sondern auch sexuell geschändet wurden, bevor man sie an den Zaun näht. Meggy hätte diesen Videos gar keine weitere Aufmerksamkeit geschenkt, wenn sie nicht durch ein merkwürdiges Detail zum Glänzen gebracht würden: der Täter (in manchen Episoden auch zwei oder drei, in jedem Fall extrem virile Männer) trägt ein Bettlaken über seinem Körper und wird so zu einem anonymen weißen Klotz mit zwei Löchern für die Augen und einem für den Penis. In der Vorstellung der Pornoindustrie ist der Vollstricker also ein Gespenst. Ihr Blickfeld ist allerdings von etwas anderem eingenommen. Von etwas, was ihr ihre Mutter vor Jahren einmal gegeben hatte, zu ihrem sechsten Geburtstag vielleicht, oder wann war das nochmal gewesen? War sie überhaupt jemals sechs Jahre alt, oder waren das die anderen Kinder gewesen, egal, das Geschenk, das hängt da noch, leicht verstaubt und vergilbt, eine Stickerei. Eine Art Steppdecke, ein Familienquilt mit dem Vater in der Mitte zwischen Mutter und Tochter. Alle drei strahlen sie und lächeln, die Sonne scheint und lächelt auch, neben ihnen Blumen und Sonnenblumen, ja sogar die Sonnenblumen lächeln. Neben der Sonne steht in feinen roten Fäden our family. Großbuchstaben. War meine Mutter denn handwerklich so geschickt? Das wüsste ich aber, oder wer hat das gemacht. Vater? Einen Quilt? Was sie aber nun wirklich verblüfft, nach all den Jahren des unbewussten Darüberhinwegsehens, das ist die Pose des Vaters. Wie er zwischen dem Kind und seiner Frau steht, die Arme ausgebreitet, offen und freundlich, während die anderen ihre Arme angelegt haben. Und gerade jetzt, nachts, kurz nach dem Aufwachen, da schauen die Blumen und Sonnenblumen, das Gras auf dem Boden, es schaut ein wenig so aus wie ein grüner Zaun. Wie der grüne Zaun am Baseballfeld. Sie nimmt das Bild von der Wand, um zu sehen, wer von beiden es gemacht hat. Wer dafür verantwortlich ist, ob ein Gruß auf der Rückseite steht, ein Datum oder ein Kürzel. Sie nimmt den Quilt also von der Wand und die Wandfarbe darunter ist heller als der Rest der Tapete. Doch auf der Rückseite ist kein Kürzel. Auf der Rückseite ist ein zweites Motiv. Seit wie vielen Jahren hängt das nun schon hier? Fünfzehn? Zwanzig? Und nie hat sie es von der Wand genommen, nie das andere Motiv gesehen? Es unterscheidet sich gar nicht so sehr von dem auf der Vorderseite. Man sieht wieder die Familie und in Rot darüber Buchstaben. ylimaf ruo. Nur, dass Mutter und Tochter auf diesem Bild kniend abgebildet sind, mit geschlossenen Augen und betend. Der Vater in der Mitte, wieder mit ausgestreckten Armen, den Blick nach links oben zur Sonne, welche kleiner ist als die auf dem ersten Bild, winzig klein, und schwarze Blitze pumpt sie aus sich heraus, wie tote Äderchen, in die Blumen und Sonnenblumen, in die Kelche und Blüten. Meggy sollte unbedingt das Projekt der Wiederauffindung ihrer Mutter angehen, denkt sie, und weiß auch schon, über welchen neuen Bekannten sie ihre Verbindungen zu Donna auffrischen könnte, ohne dass dieser misstrauisch wird. Ihr Verhältnis hatte nun wirklich gelitten unter den stetigen Angriffen, welche die Ermittlungen von Seiten der Presse ertragen mussten. Am nächsten Morgen ist der Quilt weg. Sie sucht ihn überall, findet ihn nicht, ist fest davon überzeugt, dass es kein Traum war, und frühstückt frustriert, beängstigt von der Vorstellung, dass jemand bei ihr eingebrochen ist, sie beobachtet und Dinge gestohlen hat.
13.
–Bobby.
–Ja?
–Wo kriegt ihr eigentlich die Blaubeeren her, wo doch gar keine Blaubeerzeit ist. Ich meine, der Winter müsste jeden Moment ausbrechen, Sommer und Herbst haben das Wettrüsten zu weit getrieben, nichts kann ihn mehr aufhalten. Keine Abkommen, keine Abmachungen, keine Friedensgespräche und kein Kofi Annan können den Winter jetzt noch aufhalten.
–Ich weiß nicht, wovon du spricht, Herzchen.
–Dass es bald Winter wird und Blaubeeren nicht mehr wachsen; in diesem Pancake aber Blaubeeren sind, und ich mich frage, wo ihr die herhabt, ob die wohl eingefroren waren, was irgendwie schade wäre, denn da gehen die Vitamine verloren, aber hey, immer noch besser als Import, oder ob sie eben importiert sind, was ich persönlich ziemlich unverantwortlich finden würde und mir dann überlegen, das Chesley-Diner vielleicht nie wieder zu betreten.
–Eingelegt. Und was diesen Winter angeht, ich weiß nur, das der Frühling vor der Tür steht.
–Aber es ist Herbst!
–Eben.
–Bobby?
–Ja?
–Was solls. Was weiß ich schon. Ich muss zurück zur Arbeit, bis später.
–Bis bald, Herzchen, und danke fürs Trinkgeld.
14.
Miles’ Tätigkeiten beschränken sich auf Büroarbeit. Kopieren, Editieren, Ausschneiden, Lochen und Abheften. Ein wenig hatte er gehofft, spontan mit dem Ermitteln beginnen zu können. Stattdessen leert er Aschenbecher nach Aschenbecher, bezieht Betten und findet sich plötzlich eher als Mitarbeiter von Finley, dem schrulligen Hotelbesitzer, wieder als als Agent. Wenn er Donna in der Mittagspause mal zu sehen bekommt und ihm sein Leid klagt, sagt Donna etwas wie
–Könnte ich heute einen Knödel mehr bekommen?
oder
–Ist es auch okay, wenn ich das morgen zahle? Ich habe meine Brieftasche gerade nicht zur Hand.
Und auf einmal merkt Miles, dass er angefangen hat, in der Kantine zu arbeiten mit Missy, der Tellerwäscherin aus Mississippi.
–Aber ich wollte dir doch helfen, Vater, warum darf ich das denn nicht?
–Aber du hilfst mir doch, mein Sohn, und schau mal da an der Seite, da kannst du nochmal mit der Glanzpolitur drüber.
Und just wird ihm bewusst, dass er Miles, der mürrische Schuhputzer geworden ist.
–Papa, so kannst du deinen Sohn doch nicht behandeln!
–Natürlich kann ich dich so behandeln. Und es geht schlicht darum, dass du nicht ausgebildet wurdest zu irgendetwas, weder grob noch fein, und ich nicht möchte, dass du stirbst. Oder dass du zum Ziel des Täters wirst, jetzt, wo wir wieder ziemlich sicher davon ausgehen, dass es einen gibt, der nicht Jeff Cello ist.
Und während Donna seinem Sohn diese hohle Ausweichpädagogik predigt, da fällt ihm die perfekte Aufgabe ein. Er könnte den Köder spielen.
–Den was?
–Was wir über die Opfer wissen, ist, dass sie die Besten des Debattierklubs der High & Low High School waren. Es ist gut, dass du kaum Bartwuchs hast und überhaupt einen eher schmächtigen Anblick bietest. So können wir dich leicht in einen Schüler verwandeln und dich einschleusen in die Hallen der Wiederholung, der Demütigung und Strebsamkeit.
–Aber Papa, ist es nicht genau das Problem der Produktionsbedingungen, die unsere Denkart prägen, dass wir immer davon ausgehen, dass etwa ausgebildete Schauspieler und Schauspielerinnen Anfang, Mitte zwanzig jemanden spielen können, der aber in echt sechzehn oder siebzehn ist und auf die Schule einer Kleinstadt geht? Obwohl es eben viel eher Menschen sechzehn und siebzehn sind, die auf diese Schulen gehen und gerade keine, die Anfang, Mitte zwanzig sind. Und das diese Menschen um die sechzehn oder siebzehn dann aber das Gefühl haben, so sein zu müssen, wie Schauspielerinnen und Schauspieler Anfang, Mitte Zwanzig, was sie aber natürlich nicht sein können, und dass diese jungen Menschen dann anfangen, ihre Leben zu zerstören mit Wahnvorstellungen davon, wie sie sein müssen. Überleg nur, wie viele junge Mädchen heutzutage sein wollen wie Buffy, die Vampirjägerin. Dabei sollen sie einfach sein, wie sie selbst, egal wie schlimm oder einfach das klingt, es stimmt. Diese Mädchen sollen nicht sein wie Buffy. Weil das können sie nicht, denn Buffy ist ein Lüge. Sie stammt aus dem Reich der Lügen. Aber wer ist schon in der Lage, zwischen der Lüge und dem eigenen Leben zu unterscheiden? Wer traut sich das denn zu sagen, dass er klein ist, und überhaupt nicht stark, dafür aber vielleicht heile oder glücklich oder auf irgendeine Weise richtig und gut und wie angegossen in seinem eigenen Ich. Verstehst du, was ich meine? Da ist doch eine Lücke. Ein Leere im Sinn, welche wir schon so verinnerlicht haben, aus unzähligen Behauptungen billig produzierter Fernsehrealität, dass wir genauso hinnehmen, wenn uns gesagt wird, dass sich die Verhältnisse in diesem Land nicht verändern lassen, dass die Armen arm und die Reichen böse sind, einfach, weil wir gelernt haben, Ungereimtheiten hinzunehmen, oder viel eher Brücken, Plomben, die man zwischen die Lüge und das Leben geklebt hat, dass wir nicht mehr merken, wie es vom einen zum anderen ging, aber Hauptsache, niemand fühlt mehr den Schmerz oder die Einsamkeit, die da mal war. Hauptsache zumindest, man kann das behaupten, dass man es nicht mehr fühlt, um sich nicht noch einsamer zu fühlen. Oder schlimmer noch, insgeheim lobpreisen wir die großen Unbestimmtheiten und nennen sie dann Seele, Weltwunde oder ultraviolettes Allzittern.
–Miles, das ist überhaupt nicht unser Problem, sogar ganz im Gegenteil, es ist der Kern und Drehpunkt unserer Argumentation. Das passt nämlich alles wunderbar. Wir besorgen dir eine neue Identität, einen neuen Haarschnitt und schreiben dich in der High School ein als dahergezogenes Waisenkind. Alles, was du dann noch zu tun brauchst, ist der beste Rhetoriker der Schule zu werden, dich oft alleine an dunklen oder abgelegenen Orten aufhalten und uns im richtigen Moment sagen, ob Lebensgefahr lauert, dass wir dich beschützen.
Donna blickt an seinem Sohn hoch und runter, stellt ihn sich in marineblauen Shorts vor, in einem einreihig geknöpften Kostüm und einer Ledertasche in der linken Hand. Immer einen angespitzten Bleistift am Revers und noch einen in Reserve. Sie könnten gemeinsam für Mathematik lernen, er könnte ihm die Van-der-Waals-Kräfte erklären oder das Wort Darwin nicht verwenden. Er könnte nicht über die Flächenbombardements von Tokio und Dresden reden. Ja, vielleicht könnte sein Sohn der beste Basketballspieler der Schule werden und in die College-Auswahl kommen und sich ein Stipendium an einer der renommierten Hochschulen erspielen. Sein Sohn könnte der wichtigste Sportler der Welt werden, wenn die Chinesen nicht so urehrgeizig wären, aber was macht das schon, sollen sie doch urehrgeizig sein, sie haben kein Herz. Und mit Herz werden Wettkämpfe gewonnen, nicht mir Disziplin. Miles kann nicht ganz fassen, dass sein Vater ihn dieser Gefahr aussetzen will, hat aber genauso keine Lust, wieder zur Schule zu gehen. Er hat die Schule immer gehasst, die Schule und die Gruppe und alle Imperative, die in den beiden schlummern, wie etwa haarfeine Glassplitter in der Zuckerwatte des John Wayne Gacy. Also sagt er zu.
–Aber, lieber Vater, wie soll ich mich denn kleiden, wie soll ich mich verhalten und wo bekomme ich so schnell eine MTV-Basecap her? Ich weiß nichts über Maskerade und, ehrlich gesagt, finde ich Debattieren sinnlos. Ich trinke gerne, das schon, oder besiege meine Feinde im Armdrücken oder Messerstechen, klar, aber Reden und Wettkampf zu verbinden fand ich stets unheimlich nah an der Grenze zu Terrorismen.
Strahlend umarmt Donna seinen Sohn. Er lebt sich bereits ein in die Rolle eines Teenagers, er ist der geborene Undercoveragent. Und beim Umarmen klopft Donna Miles zwei-, drei- oder viermal auf den Rücken.
–Pass auf, ich kenne da jemanden, und die ist so fantastisch in Schönrederei, die wird dir das leicht beibringen, und außerdem musst du ja nicht wirklich gut sein in Rhetorik, du musst bloß so tun. Verstehst du?
Er bietet seinem Sohn eine Zigarre an.
–Was sagst du, Spion?
15.
L'Otel Chacal, innen – später Nachmittag. Das Licht des regnerisch grau-kaltblauen Regenhimmels, welches durch ein Fenster in den dritten Stock dringt und keine Schatten wirft, wird durch eine Kerze konterkariert, die unwirklich gelb allem um sie herum Trost entgegenspuckt. Josephine Bob ist Gewandtmeisterin und arbeitet frei. Meistens für geheime staatliche Organisationen oder den Broadway. Sie ist eine Frau, der man ihr Alter nicht ansehen kann, und trägt ausschließlich Grau, Perlen und einen goldenen Ring am kleinen Finger. Binnen zweieinhalb Wochen bringt sie Miles das Sprechen bei, die Bewegungen der Hände, die Hypnose der Demagogie, das präzise Räuspern und allgemein das Vortäuschen einer Idee.
–Ein Moment, der genau gesetzt sein, der die Mimik und Gestik beherrschen, der wie ein gezielter Schlag auf den Solarplexus die Atmung des Gegners zum Stillstand bringen muss.
Sie hat die Angewohnheit, wird sie nach ihrem Namen gefragt, sich jedes Mal einen neuen auszudenken und eine dazugehörige Biographie genauso. Miles unterrichtet sie als Heather Sasquash, während sie sich seinen Kollegen als Lucy M. Terramore vorstellt.
–Und wofür steht das M.?
–Malaika, das ist so ein Swahili-Ding.
Doch sie tut das nicht zum Spaß, oder weil sie nicht an das Prinzip der Identität glaubt, oder gar, weil sie vergessen hat, wer sie wirklich ist, denn wer sie wirklich ist, das weiß sie, das weiß zwar vielleicht nur sie, da ihre Eltern schon lange verstorben sind und sie bis zum siebzehnten Lebensjahr allein mit ihnen auf einem Atoll in der Nähe der Marshall-Inseln groß geworden ist – dass sie Henry Clocksmith ist, ein einfacher Junge zweier schwieriger Aussiedler aus Wellington –, nein, sie tut es, um, wenn es sein muss, zu wissen, dass es niemanden gibt, der sie kennt. Miles beginnt sein zweites Schulleben, er lernt junge Menschen kennen, unterhält sich mit ihnen über ihre Probleme und verliebt sich nicht. Er wird nicht in die Jugendsparte der Anachronistischen Jugend Beetaville e.V. aufgenommen, welche nun seit anderthalb Jahren einen ermüdenden Rechtsstreit mit Joseph Heithworth führt, da dieser laut Erbe der verstorbenen Emily Hay das Anrecht auf die Springfield M 1855 hat. Der Vorsitz argumentiert natürlich, dass die Waffe gar nicht Emily gehört hätte, sondern dem Verein, doch der Frontsänger von Chesley & the Holy Chain lässt sich davon nicht beeindrucken und will das Gewehr nun endlich besitzen. Er besteht darauf und mit ihm eine Armee von Anwälten. Die Jugend ist kurz davor, sich aufzulösen. Aber Miles bekommt davon nichts mit. Das ist Klatsch. Miles debattiert. Und Meggy hat ihm versprochen, seine Deckung nicht auffliegen zu lassen, wo sie doch bei der Zeitung arbeitet und so weiter. Die beiden verstehen sich nach wie vor gut, aber Miles hat immer weniger Zeit und auch Meggy hat andere Sorgen. Beziehungsweise hat sie Schwierigkeiten bei der New England Times, da Elenore Heithworth, ihre selbsterklärte Ziehmutter und Schutzpatronin, welche Chefredakteuse geworden war, nachdem ihr Vorgänger in aller Öffentlichkeit das Leben eines G.I.s höher wertgeschätzt hat als das eines Zivilisten in zum Beispiel Kurdistan, Saudi-Arabien, Bosnien-Herzegowina, dem Kongo, Sierra Leone, Kambodscha, Kenia, Guinea-Bissau, dem Sudan, oder ganz speziell dem Irak allgemein, den Glauben verloren hat in ihre Arbeit. Daher werden die Artikel der Guten Nachrichten immer kruder und kryptischer, sie beschuldigt die Bewohner der Stadt, dass sie nachts einbrechen in fremder Leute Wohnungen, sie berichtet von kultischen Zusammenkünften, brennenden Feuerbällen, Kirchen gefüllt mit Terpentin. Geschichten von Menschen, die im Regen ertrunken sind.
16.
Im Frühling, welcher das Jahr 1999 einleitet, steht bloß noch eine Frage verteilt über die einstmals schönste Seite der Zeitung, insgesamt 79 Mal in verschiedenen Größen, Schriftarten, dick, kursiv oder unterstrichen: What are you doing on Saturdaynight? Elenore geht zu ihr und ist sichtlich enttäuscht.
–So viel Vertrauen hatte ich in dich, mein Kind, du solltest die Zeitung neu erfinden. Sie einfach machen und schön. Klar sagen, was klar zu sagen ist. Ohne zu viele Nebensätze, Adjektive, Wortspiele oder hohle Listen mit Verweisen, die ins Nichts hineinführen, außer in das Ego der Autorin, aber wozu ist es schließlich gekommen? Konzeptjournalismus. Das Schlimmste von allem. Formalismus. Die Zen-Pest, die Abstraktions-Pest, die Assoziations- und Eklektizismus-Pest, letztlich: die John Cage-Pest.
Kurzerhand schmeißt man sie aus der Zeitung. Beziehungsweise darf sie beim Wetter bleiben. Auch ihre Mutter hat Meggy nicht wiederfinden können, sie hat nichts mehr von ihr gehört, jeden Tag kniet sie mit einem Strauß Wildblumen an der Leerstelle, die ihr Vater gelassen hat. Sie sucht zwischen den Fichten, wo die Sonne nie scheint, sie geht hin, wo der Wind kalt weht. Miles hat keine Zeit mehr, er muss sich auf den großen Debattierwettbewerb vorbereiten. Josephine Bob an seiner Seite. Es hat sich keine Mutter-Sohn-Beziehung zwischen den beiden entwickelt. Er empfindet sie eher als Frisörin oder als jemanden, der sich gut mit Maniküre auskennt. Trotz seines guten Gefühls, was die Konkurrenz angeht, ist er ungewöhnlich aufgeregt, aber wohl eher, weil Holly Cello für Samstag die Veröffentlichung ihres zweiten Romans angekündigt hat. Brokkoli Zwei wird in den Läden liegen, man wird es kaufen können, und was ist das bitte für ein Titel? Donna fühlt sich wohl in seiner Vaterhaut, denn sein Sohn läuft fantastisch, und ebenso in seiner Beamtenhaut, denn die Ermittlungen ebenso. Er ist sich sicher, dass der Vollstricker bald zuschlagen wird, wann genau, das weiß er nicht, aber vielleicht ja just im Frühling, nun, wo das Wetter besser wird. Oder waren die Morde im Herbst? Er kann sich nicht erinnern.
–Welche Morde, von welchen Morden sprichst du denn!
brüllt er Finley den Hotelbesitzer an, eines Nachts. Donna hat schlecht geschlafen.
–Die drei Jugendlichen, die an den Zaun genäht wurden.
–Ich weiß nicht, wovon du sprichst, alter Mann, lass mich in Ruhe mit diesen Horrorgeschichten. Verbitterter alter Mann. Würdest mir gern das Bajonett zwischen Milz und Lunge drehen, ein Hund soll ich sein für dich, verrecken, hast wohl Kinder gegessen, wie du in Korea warst. Alles weiß ich längst, Busan und der Blitz aus Gedärmen, dass es nur so tropft von den Blättern, was, die Furchen der Karren voll mit Blut und Schlamm und Rettich, aber man kann nicht alles mit mir machen. Nicht alles, Dachs, willst mich wohl weiß sehen, in einen Sack packen und unter Butter, aber so nicht, Drecksnager. So nicht und niemals.
Jedoch verliert Donna seinen Verstand nicht ganz. Ein Schlaganfall rettet ihn. Und macht ihn zum jüngsten Schlaganfallpatienten in der Geschichte der Stadt. Der Bürgermeister überreicht ihm eine Medaille aus Speckstein. Einen Schlaganfall so kurz vor dem Tag, welcher der zentrale in seinem Lebenslauf hätte sein können. Die Schande. Wo er den Vollstricker endlich hätte berühren können, ihn an seinem Handgelenk packen und herumreißen. An seiner Haut ziehen, sein Gesicht öffentlich machen und all die Trauernden des Landes vollstopfen mit Genugtuung und nochmal Genugtuung und sein Fleisch raushängen an eine verächtliche Luft, aus seinen Knochen Seife kochen. Aus seinem Schädel hätte er einen Spucknapf schnitzen können. Doch sein Körper gehorcht ihm nicht mehr. Er war der Stadt zu lange ausgesetzt, zu lange wurde wider seinen Willen gehandelt. Das Lebendige begann sich niederzulegen. Die Schmetterlinge fielen wie Laub und bedeckten die Straßen mit bunten Mandalas, still und erloschen, kein Pfiff war mehr zu vernehmen aus einem Schnabel oder einer Schnauze. Der Beo schwieg. Die Muscheln verschließen ihre Geister fest in sich.
17.
–What are you doing on Slaughterdaynight, Meggy?
Miles hält die dünne Hand fest, die über den Rand des Krankenbetts fällt. Es ist warm, die Wände viel zu weiß oder viel zu orange oder viel zu blass. Beim Schlucken spürt er ein Ziehen in den Nebenhöhlen, irgendwo unter den Augen, hinter der Nase. Das Einzige, was das Gefühl von Unwohlsein in Hospitälern vielleicht noch verstärken könnte, wäre ein Piepen im schwachen Herztakt. Manchmal möchte Donna, dass sein Sohn den Vorhang aufzieht, manchmal soll er ihn schließen. Sie bereden den bevorstehenden Tag und Taktiken für den Debattierwettbewerb, welche Miles jedoch längst mit Josephine Bob besprochen hat, und mit dem letzten Fünkchen seiner jugendlichen Überheblichkeit und der dazugehörigen Blasphemie schweift Miles ab. Er starrt in die Leere der halb gelähmten Gesichtsmuskeln und stellt sich vor, wie er seinem Gegenüber mit einem Teppichmesser links und rechts in den Hals drei Kiemen zieht. Bloß fingernageltief, dass er unter Wasser atmen kann. Ein Krankenpfleger kommt und bringt so etwas wie Essen. Er schaut wirklich aus wie Bobby. Doch Miles spricht ihn nicht darauf an, da er nicht in einen ungewollten Flirt geraten möchte. Zeremoniell küsst er die intravenösen Zugänge zu den Venen seines Vaters und verlässt ihn für vorerst immer.
18.
Um ein größeres Publikum für die Kunst des Debattierens und der feinsprachlichen Auseinandersetzung mit der Weltwirklichkeit zu schaffen, veranstaltet die Schule vor dem Hauptereignis einen Buchstabierwettbewerb für Kinder und Ausländer. Höhepunkte sind ein kleines, kaum sieben Jahre altes Mädchen, welches ohne Probleme Entmutigung aufschlüsseln kann und jemand aus Madagaskar, dessen Kenntnisse ob der genauen Rechtschreibung der Menschenrechtscharta sogar Meggy beeindruckt, welche als freischaffende Journalistin vor Ort ist. Hurt ist eine Kleinstadt bei Harrisburg, Pennsylvania. Seit der Freiheitsbewegung und dem Ende des Bürgerkriegs ist sie bekannt dafür, die ausgezeichnetsten Rhetorikerinnen und Demagogen als Söhne und Töchter der Stadt bezeichnen zu können. Etwa Madeleine Albright, Roy Cohn, Atticus Finch, Jim Casy, Jim Jones und den jungen Abraham Lincoln. Es lassen sich Generationen von politischen Agitatoren, Lobbyisten und Baseballcoaches zurückverfolgen, welche zumindest väterlicherseits aus Hurt kommen, oder eben mütterlicherseits aus Quinth, der Nachbarstadt. Aufgrund dieser hohen Dichte an Sprachgewalt ist es üblich, dass die größten verbalen Schlachten der Nation zwischen diesen beiden Kleinstädten ausgetragen werden, und jedes Mal, wenn sich die Bürgerinnen und Bürger um den kleinen Kampfring versammeln, ist anzunehmen, dass Talentsucher aus dem ganzen Land unter ihnen sind. Männer in teuren Baumwollanzügen von BP und Shell, die Aktentruhen voller Gold, Zigarren und Schnaps hinter ihrem Lächeln daherzaubern können, und Frauen mit strengen Brillen und eisenharten Knoten im Haar, welche nach jemandem suchen, der Reden für den texanischen Präsidentschaftskandidaten schreiben könnte, denn dieser ist zwar äußerst reich, doch leider sehr dumm. Es ist eine große Ausnahme, dass ein Team aus Hurt den langen Weg auf sich nimmt, den Einhundert-Meilen-Radius von Harrisburg zu verlassen, um die Herausforderung der High School aus Neuengland anzunehmen. Doch was sollten sie anderes tun? Sie mussten zusagen, denn das Gerücht geht um in der Schönredereiszene, dass es einen neuen Benjamin MacNash gibt, keine neue Chesley Heithworth, klar, aber wieder einmal gegen einen Kopf anzudiskutieren, der so flott und originell ist, wie es der von Benjamin war, ein Niederknien wäre es. Auf der Fahrt in ihrem Kleinbus sind die fünf Teammitglieder sowohl die Tagesnachrichten durchgegangen, und zwar die aus allen wohlhabenden Nationen der Welt, als auch die Reden der Skeptiker und Sophisten. Beim Wettkampf selbst allerdings sind sie eher müde und durcheinander, verwechseln Schweden mit Norwegen, kennen nicht den Unterschied zwischen libertär und libertinistisch und lassen sich von Nachnamen syrischer Atomforscher verwirren. Nach drei Runden schon faseln sie wild durcheinander und bestreiten eher Positionen der eigenen Teamkollegen als die der Gegner und schlussendlich flehen sie Miles an, welchen sie als neuen Fixierpunkt der Sprachbeherrschung anerkennen, endlich einfach die Bühne verlassen zu dürfen, sie flehen ihn an, dass er bitte seine Rede gegen das General Motors-Regime beenden soll, dass sie persönlich einen Brief an den Präsidenten schreiben, wenn nötig, dass die Forschung an elektronischen Autos doch bitte zu fördern ist, wenn sie nur endlich von der Bühne dürfen. Die Scham ist zu groß, als dass sie es weiter ertragen würden unter dem Pendel, welches zwischen dem Gelächter des Publikums und der argumentativen Herrlichkeit hin- und herschwingt. Schließlich kriechen sie von der Bühne, geschlagen und gedemütigt. Sie waren zu schwach, ihre Wurzeln reichten nicht weit genug in die Geschichte ihrer Heimatstadt, sie wurden auseinandergehetzt, in Ecken getrieben und zerfleischt.
–Das muss dieses Gefühl sein, welches andere immer als Glück benennen, kann das sein?
flüstert Miles seinem Sitznachbar zu. Sechs Wochen später wird der Brief eines Arztes aus Harrisburg im Sekretariat ankommen, welcher das Entstehen eines Krebsgeschwürs in den Stimmbändern eines jungen Schülers aus der Cash Boys School in Hurt auf eben jenen Samstagabend attestiert. Die Rektorin wird ihn einrahmen und zu den anderen Trophäen der High & Low High School hängen. Doch wird es beim Anblick des Briefes immer einen kleinen Stich geben, denn auch ihrer Schule ist an diesem Abend jemand verlorengegangen.
19.
Miles kommt aus der Umkleidekabine, frisch und geduscht, die Haare nach hinten gekämmt. Dampf steigt an ihm empor. Er gibt Meggy ein Exklusivinterview. Er wirft drei Quarter in den Schlitz des Automaten und zieht sich eine Limonade. Seine Tasche hängt ihm locker über den Rücken. Er verlässt die Aula, tritt ins Freie, und als die Tür hinter ihm ins Schloss fällt, wird es dunkler. Erst ganz unmerklich, dann schneller, dann rasant. Bis kein Licht mehr da ist, kein einziges Korn, und er weder Hände noch Füße sieht, keinen Horizont und keine Sternbrocken am Firmament. Es gibt nur mehr den Sturm und das Heulen der Stadt. Die sich krümmenden Straßen, das Knirschen der Erdtafeln, wie sie sich untereinander verkriechen. Unwillkürlich beginnt sein Körper auf die Dunkelheit zu reagieren. Er schüttelt sich, wird warm. Es ist Frühling. Jemand ruft nach ihm, ruft seinen Namen, irgendwo in der Ferne, ein Bellen, Miles bettelt, er brüllt und jammert um Hilfe, doch niemand reagiert. Leute gehen an ihm vorbei, Holly Cello schlendert langsam ihrer Wege. Sie legt Miles ihre Hand auf die Schulter, will ihm signalisieren, dass es ihr gefallen hat. Sie streichelt ihm über die Wange. Sie will ihn irgendwie zu sich nach Hause einladen, sie würde wieder anfangen wollen zu reden, für ihn, mit ihm, über alles, sein Leben und ihr Buch, das alte und das neue, welches die Presse derart vernichtet hat, sie denkt, dass sie in Miles einen neuen Partner finden könnte. Sie empfindet eine Verwandtschaft zwischen ihren Gehirnen, zwischen dem Tempo der Gedanken. Sie dreht sich Jeff Cellos Verlobungsring vom Finger und verschluckt ihn vor seinen Augen, dass er nur einfach nickt. Nicken und mit ihr ins Taxi steigen. Nicken und in ihrer Wohnung Krimsekt trinken. Lange Gespräche führen. Doch Miles bekommt davon nichts mit. Spürt nichts, sieht nichts. Er liegt am Boden, schreiend. Holly ist längst verschwunden. Er ist blind geworden, denkt er, panisch. Seine Körperteile tun, was sie wollen. Sie schlagen in alle Richtungen aus. Brechen kaputt wie Zweige. Er denkt, er hat das Licht seiner Augen für immer verloren, doch das stimmt nicht, es ist die Welt, die ihr Licht verloren hat. Alles ist finster. Und plötzlich hören die Geräusche auf. Stille. Und was ihm bleibt, das ist der Schmerz, das Gefühl, einen Körper zu haben und Raum einzunehmen. Bis die Taubheit einsetzt. Zuerst die Fingerspitzen, dann die Arme, Beine und dergleichen. Also fühlt er nichts mehr. Und verliert das Gleichgewicht. Bis ihm alle Sinne genommen sind, und das, was ihn vor dem Abgrund aus leerem Dasein beschützt, sind seine Gedanken. Die dünn werden. Verschwinden. Die Spannungen in den Spulen seines Schädels nehmen ab. Die Welle wird zu einem Strich. Kein Schlaf, kein Tod hat ihn gerettet. Und es gibt keine Zeit mehr. Und vielleicht, vielleicht ist alles anders. Wie? Vielleicht werden wir ewig leben. Ein Stich, eine Nadel, die sich durch das Fleisch seines Rückens zieht. Vielleicht. Der Splitter einer Empfindung. Ein elektrischer Impuls. Plötzlich Schärfe, Wahrnehmung, Adrenalin. Mit einem Mal wird alles klar und hell und kalt. Gedanken, Gerüche kehren zurück. Der Gestank der eigenen Exekution. Und er spürt, er spürt jeden Zentimeter seiner Knochen, die Brüche und Bruchstücke, das Loch in der Schädeldecke, die frische Luft am Frontallappen, das trockene Blut auf seiner Stirn. Er kann kaum etwas sehen. Sein Blick ist verklebt von etwas, das Blut oder Liquor sein könnte. Tränen? Oder das Gelee aus dem Inneren des Auges? Da sind feste Gummiseile um Waden, Oberschenkel, Arme und Brustkorb, die ihn so lange an den Zaun fesseln sollen, bis Nadel und Faden allein das Gewicht seines Körpers tragen. Die zierlichen Stiche, die an seinem Rückgrat entlang nach oben führen, das Brennen unter der Haut. Ein völlig überfordertes zentrales Nervensystem. Bewegen darf er sich nicht, er muss sich bewusstlos stellen, doch kann er sich nicht verkneifen, ein wenig um sich zu schauen. Er muss ihn einfach sehen, seinen Henker, das Gesicht, welches nur die drei Toten kennen, wie er ja selbst bereits tot ist, und nur durch ein Unglück zurückgefallen ins Bewusstsein. Und er schaut. Und er sieht die Flamme eines BIC-Feuerzeugs, welche an einer langen rußigen Stahlnadel entlangfährt. Kein Gesicht, eher eine Form im Schein der Flamme, ein Flackern im langen Schatten der Straßenlaterne. Welches die einzigen beiden Lichtquellen sind unter dem wolkendunklen Nachthimmel. Wo bin ich, wie spät ist es, wo bin ich. Aus unerfindlichen Gründen kann Miles denken, obwohl das nicht der Plan war, was ein Plus ist, doch ist er gefesselt, schwer verletzt und unbewaffnet, im Gegensatz zu der Person, welche ihn gerade an einen Zaun näht. Das ist das Minus. Er hört das langsame Atmen. Dann ein neuer Stich auf Höhe der Milz. Dann ein weiterer. Wenn er jetzt zuckt oder beginnt zu empfinden, dann stirbt er. Wenn er den kleinen Vorteil preisgibt, den er hat, also, wenn da überhaupt so etwas ist wie eine Chance oder das Ende der Nacht, dann sollte er kein Problem mit Qualen haben. Der Vollstricker ist in etwa so groß wie er selbst, weiß und hat keine Stirn, die Nase wird direkt zu seinem Mund und der Mund zu seinen Zähnen zu seinem Kinn, die Haare sind verborgen unter einer schwarzen Wollmütze. Schweiß und Speichel tropfen ihm langsam gleitend aus allen Poren, sein Hemd ist dreckig, aber es ist so dunkel, Miles kann nicht ausmachen, welche Farbe es einmal hatte. Sie sind etwa im gleichen Alter. Er kann aber nicht sagen, ob er ihn wiedererkennen würde, wenn er ihm beispielsweise in einem Eiscafé gegenübersitzt und Zeitung liest. Wie stehen seine Möglichkeiten. Was kann er machen. Ausharren. Warten, bis der Vollstricker sein Werk allein lässt. Irgendwann morgens, wenn die Sonne aufgeht. Er könnte um Hilfe rufen, sich befreien. Oder den eigenen Widerstand brechen. Sich hingeben. Verschwinden. Alles hinter sich lassen. Nein. Warten. Ausharren und Aushalten. Die Fesseln lösen und den Fall. Aber dafür gilt es zu überleben. Nicht verbluten und darauf hoffen, dass sein Pulsschlag nach getaner Arbeit nicht kontrolliert wird, und, falls unangenehm pumpend, nicht durch einen gezielten Schlag mit dem Hammer ins Genick verbessert. Er könnte aber auch versuchen, sich zu befreien. Die Gummibänder um seine Beine irgendwie lockern, einen gezielten Tritt und. Nicht mit mir, du Irrer! Jetzt hab ich dich. Jetzt hab ich dich, du irres Schwein! Miles muss lachen. Der Vollstricker schaut verdutzt.
–Warum lachst du?
Seine Stimme klingt wie die Stimme eines Kindes, hoch und zart.
–Ich habe mir gerade vorgestellt, mich irgendwie zu befreien und dich zu überwältigen.
–Aha.
Und es entsteht ein Moment des unangenehmen Schweigens. Miles will etwas sagen, aber ihm fällt nichts ein.
–Du arbeitest für Donna Jones, richtig?
–Ja.
–Sag ihm nicht, dass du aufgewacht bist, und gib niemandem Hinweise darauf, wie ich aussehe oder wie ich rieche. Oder was ich für eine Stimme habe, wie alt ich sein könnte, und so weiter. Keine Details über mich oder mein Werkzeug, ja? Kannst du mir das versprechen?
–Ich, ä –
–Okay, klar, das tut jetzt alles sehr weh, das weiß ich, aber ich wollte sicher nicht, dass du aufwachst. Du scheinst ein gesunder Typ zu sein. Wohnst noch nicht so lange hier, was? Egal. Normalerweise wärst du nicht aufgewacht bis, sagen wir, übermorgen. Und dann wäre schon einiges wieder verheilt gewesen. Morgen wirst du ein Bild sein und das Bild wird etwas erzählen, etwas Wahrhaftiges, und dann kannst du weitermachen wie bisher.
–Ein Bild?
–Versprich mir einfach, dass du niemandem etwas von diesem Gespräch erzählst und keine meiner Mordfantasien wird dich jemals belästigen.
–Ist gut.
Er drückt eine Hand, die an Miles’ Arm hängt, welcher sich irgendwo links neben ihm befindet. Seine Hand ist klein und rau, er trägt keine Ringe. Ist das ein Tattoo?
–Versprochen.
–Du tötest mich also nicht?
–Wenn ich dich töten wollen würde, also nur mal angenommen, dann wärst du jetzt tot.
–Okay.
–Die anderen, das waren Unfälle. Sie sollten nicht sterben.
–Du wolltest sie gar nicht umbringen?
–Halt dein dummes Maul.
–Ich –
Miles bekommt eine Kanüle in seine Wade gesteckt, durch die sich wenige Milliliter einer durchsichtigen Flüssigkeit in seinen Blutkreislauf quetschen. Woraufhin er fast stirbt, aber eben nur fast, und zwei Tage später verkatert erwacht.
20.
Er liegt in einem Krankenzimmer und neben ihm sein Vater. Dieser hat sich bereits ein wenig von seinem Schlaganfall erholt und sitzt seit nun etwa zehn Stunden in einem Klapprollstuhl bei der Hülle seines Kindes. Verwirrt schaut Miles um sich.
–Wo bin ich? Was ist passiert. Was –
–Ruhe. Beruhige dich. Du darfst dich nicht so anstrengen. Das Wichtigste ist jetzt erst mal, dass du uns sagst, wer dir das angetan hat, und dass wir eine genaue Beschreibung des Täters bekommen. Und dann sehen wir weiter.
–Wie?
–Kannst du in etwa sagen, wie die Person aussah? Wie alt sie ist? Ungefähr?
Sitzt diese Gestalt dort wirklich als Ermittler in einem Mordfall vor ihm, bin ich etwa sein Zeuge und er nicht mein Vater?
–Miles. Schau mich an. Du musst dich jetzt konzentrieren. Wer hat dir das angetan?
Konzentrieren? denkt der Schwerverletzte, wie soll ich mich denn konzentrieren? Kann mich dieser Vater nicht einfach mal in den Arm nehmen oder mir ein Comicheft gekauft haben? Miles schweigt. Den Blick an die Decke. Eine kalte Zähre entfließt seinem Auge.
–Wer?
Donna packt Miles an der Schulter.
–Wer war es?!
Die Schwäche hat ihn zu einem alten Mann gemacht. Seine Haut ist fleckig, ledrig und schlaff, zwischen den Zähnen gelbes Moos. Er spuckt beim Brüllen. Er hustet nach dem Brüllen. Ein Strickpullover liegt über seinen Schultern. Doch gerade weil oder vor allem obwohl er sein Versprechen in der Sekunde vergessen hatte, in der er es gab, das Gelübde, welches er vor seinem Scharfrichter abgab, niemals jemandem von ihm zu erzählen, sein Geheimnis zu wahren und keine Hinweise ob seiner Identität preiszugeben, schweigt Miles. Er kann nicht mit seinem Vater sprechen. Er hat es probiert, aber er ist dazu nicht in der Lage. Er kann nicht ehrlich mit ihm über seine Probleme reden, über seine Gefühle, Erwartungen oder Mutter, und so kann er ihm auch nicht sagen, was er über den Vollstricker weiß. Es ist ihm nicht möglich. Und was bleibt, das ist das Geräusch des sich dehnenden Linoleums unter ihnen. Es ist das Jahr des Schweigens. Die Zeit des Fressens und Saufens.
–Ich will tausend dumme Menschen sein,
erklärt Miles seinem Vater langsam
–tausend dumme Waisen.
Die beiden schauen sich dabei nicht an, sie schauen ein Bild an der Wand, welches auf eine eigentümliche Art ihrer Stimmung entspricht. Und Donna rollt langsam zur Tür, und er sagt
–Entschuldigung.
und er sagt
–Ich hab dich lieb, ich meine, ich, also, ich bin dein Vater –
und er sagt
–Ich meine, ich weiß, ich war –
und plötzlich hält er in seinem cäsarischen Bedeuten inne, leise, denn aus den Tiefen des Krankenhauses, irgendwo aus der Kantine oder dem Ort, wo die Leichen aufbewahrt werden, aus einem Raum voller Fliesen und Chrom, ertönen zaudernd Geigen und Bratschen, jetzt Querflöten, Oboen, ein Takt und Rhythmus, Trommeln, ein Marsch, das Wehklagen des Fagotts, gefolgt von Stille, und eins und zwei und, Becken! Klarinetten! der Chor der Behinderten und Verkrüppelten läuft durch die Gänge, sie tanzen, autistische Kinder, lahme Alte, Querschnittsgelähmte und Frühchen, alle stimmen sie gemeinsam ein, jauchzen und frohlocken die Botschaft der Hoffnung. Donna reißt die Vorhänge auf und das Zimmer wird erfasst von dem Licht des anbrechenden Tages!
–Ich war nicht immer gut, das weiß ich, aber ich liebe dich, und ich werde immer dein Vater sein. Egal, was kommt. Ich werde immer für dich da sein, denn du bist mein Sohn. Mein einziger Sohn und der wichtigste Mensch in meinem Leben.
Ein Vogel fliegt krachend in die Fensterscheibe, dann ein weiterer. Vater und Sohn schauen sich fragend an, dann bittet Miles darum, die Vorhänge wieder zu schließen.
–Ach und hier, das habe ich vergessen. Ich habe dir ein Buch mitgebracht. Es ist das neue Buch von Holly Cello. Darüber haben wir uns mal unterhalten. An dem Abend, als du gerade in die Stadt kamst. Da dachte ich noch, du würdest mich hassen. Weißt du noch? Sie hat es sogar signiert für dich.
Donna legt das Buch auf den Nachttisch und geht dann, denn Miles scheint eingeschlafen zu sein. Ein paar Tage später kommt Meggy.
21.
–Tag.
–Grüß dich, Meggy.
–Na? Wie wars?
–Schrecklich.
–Kannst du mir was über den Mörder erzählen?
–Er ist ungefähr so alt wie ich und du, wahrscheinlich war er bei dir auf der Schule oder so. Er hat eine auffallend hohe Stimme und ein bisschen sieht es aus, als hätte er kein Gesicht. Also das geht alles so ineinander über bei ihm. Zumindest hat er keinerlei Stirn oder Nase. Eins von beiden. Außerdem hat er ein BIC-Feuerzeug verwendet, aber das tun ja alle.
–Und was soll ich mit diesen Informationen machen?
–Du könntest einen Artikel darüber schreiben?
–Die haben mich gefeuert.
–Wirklich?
–Ja, naja, die anderen Redakteure meinten, dass die Bewohner der Stadt das Interesse an den Guten Nachrichten verloren hätten, und dass man sie vor allem viel in Mülleimern, Vogelkäfigen oder der Schmetterlingskammer finden würde. Außerdem habe ich wirklich nur noch Unsinn geschrieben zum Schluss.
–Ich mochte das.
–Danke. Ich eigentlich auch.
–Dann sag nicht, dass es Unsinn war.
–Weißt du, manchmal, da verliert man den Glauben an sich, und dann war es das eben.
–Meggy. Bitte.
–Hast du deinem Vater jetzt wirklich keine näheren Details gegeben?
–Ne.
–Und wieso?
–Keine Ahnung. Einfach so.
–Und was willst du jetzt machen?
–Ich werde mich den kanadischen Iren anschließen, die unten vor der Tür auf mich warten.
–Dann heißt das wohl –
–Auf Wiedersehen.
–Genau.
–Ich mag dich.
–Komm mit, Meggy, es ist immer Platz für dich im Auto.
–Mein Platz ist hier.
–In Beetaville? Hier sollte niemandes Platz sein.
–Doch. Jemand hat drei Freunde von mir umgebracht und versucht, dich umzubringen. Ich kann nicht einfach weg. Nicht, solange die Morde nicht aufgeklärt wurden.
–Also, erst mal hat er nicht versucht, mich umzubringen, sondern er hat mich für eine Art Ritual missbraucht oder für so etwas, wie die Darstellung eines Symbols in Zeiten der Desymbolisierung, und zum anderen hast du mir immer erzählt, dass du weder Benjamin noch Chesley noch Emily mochtest, beziehungsweise gut kanntest.
–Mit Benjamins Freundin war ich befreundet. Mit Nataly.
–So gut, dass sie dich vor allen Mädchen aus deinem Jahrgang bewusstlos geprügelt hat?
–Das war Sportunterricht, das war was anderes.
–Meggy, du schuldest hier keinem was. Komm einfach mit. Bitte. Das wäre –
und hier macht Miles eine kurze Pause, er schaut auf seine Finger, wie sie sich verknoten, dann in Meggys Augen.
–schön.
–Ja. Wäre es.
Also schweigen sie. Füllen den Raum mit ungelebter Zukunft.
–Wäre es wirklich.
Die beiden, verschlungen, bierhell, frech und reizend, wie sie mit der kleinen Gin MacAdler Verstecken spielen, wie sie sich alle so unglaublich kitzeln, wie der Bus über den Highway fährt, gleitet, fliegt, den Schatten lang wie eine Wüste, lang wie ein Kontinent, ein Schatten, der sich über den gesamten Erdball erstreckt und seinen Urheber küsst, oder wie sie einfachen amerikanischen Arbeitern beim 9-Ball die schwer verdienten Dollars aus den Taschen ziehen, den alten Paul Newman-Trick, und man schmeißt ihnen leere Bierflaschen hinterher, doch sie sind unverwundbar und lachen einfach und ihr Lachen wird eine Jahreszeit, in der Erwachsene zu Kindern werden und Kinder nicht zur Schule müssen.
–Du weißt, dass ich hierbleiben werde. Warum also darüber reden?
Nebenbei nimmt Meggy das Buch vom Nachttisch hoch, in das Miles noch keinen Blick geworfen hat.
–Was liest du da?
–Den neuen Roman von Holly Cello. Kannst ihn gerne haben.
–Mochtest du ihn?
–Nicht wirklich. Nein.
Meggy wacht auf. Sie schaut auf den Wecker, der gleich klingeln wird. Sie wacht eigentlich immer vor dem Klingeln des Weckers auf. Sie kann auch eigentlich immer, so wenn sie denn gefragt wird, sagen, wie spät es ist, ohne auf die Uhr zu schauen. Sie schaut auf die Minuten, wie sie vergehen. Eigentlich auf eine Maschine. Zeit ist weder sichtbar noch zeitlich erfahrbar zu machen. Draußen ist es dunkel, nicht finster. Meggy schätzt, dass es mehrere Grade unter Null ist. Warum sie sich den Wecker gestellt hat, weiß sie nicht. Es gibt nichts zu tun. Sie muss zu keiner Tageszeit wach sein. Wenn sie aber morgens keinen Wecker hört, denkt sie, sie wäre unnütz. Die drei verbliebenen Finger an ihren Händen: ein Daumen, ein Mittelfinger und ein kleiner Finger. Mit dem Stumpen schlägt sie auf die Stopptaste des Weckers, nachdem dieser für eine Zehntelsekunde piept. Wieder und wieder schlägt sie auf ihn, müde und boshaft. Wie sie die Finger verloren hat, das weiß sie nicht mehr. Sie fragt sich, was passieren wird, wenn ihr all ihre Finger abhandengekommen sind. Ob dann etwas zu Ende geht. Ob etwas beginnt. Ob ihr Körper ihr eine Art Herunterzählen mitteilen möchte. Sie fragt sich, wie sie sich ihre Hosen anziehen soll, wenn sie keine Finger mehr hat. Oder BHs. Oder ihre Socken. Ich fettes Schwein, denkt sie. Ich bin ein fettes Schwein und mein linkes Auge ist einen Zentimeter weiter nördlich als mein rechtes. Und ich bilde mir ein, eine Landkarte zu sein, dabei bin ich ein fettes Schwein und niemand will mich entdecken oder bereisen oder kleine schwarze und rote Fähnchen dorthin stecken, wo er war, oder sie, niemand. Wenn ich kein Mensch wäre, würde man mich schlachten. Mein Fleisch würde billig verkauft werden, weil es zu fett wäre. Man würde vielleicht Speck aus mir gewinnen können oder Gehacktes. Burgerfleisch für billige Burger, die nur nach Käse schmecken. Nicht einmal nach Käse, nur nach der industriellen Epiphanie von Käse. Aber weil ich ein Mensch bin, werde ich nicht geschlachtet. Ganz bestimmt nicht. Denn ich bin ein Mensch. Sicher. Neben ihrem Bett, beziehungsweise dem Bett ihrer verschollenen Mutter, ihrer vielleicht verreckten oder verkommenen Mutter, steht ein Glas mit Leitungswasser. Vom Aufwachen wird sie immer so durstig. Sie muss dann immer so pinkeln und wird immer so durstig. Am liebsten würde sie den ganzen Morgen damit verbringen, zu pinkeln. Aber noch ist sie zu faul zum Aufstehen. Sie trinkt das Wasserglas in einem Zug aus, und stellt es wieder neben sich auf den kleinen Pappkarton, der ihr als Ablagefläche dient. An der Wand gegenüber von dem Pappkarton, welcher ihr nicht nur als Ablagefläche dient, sondern ein richtiges kleines Tischchen ist, also von ihrem Kopf zur Rechten aus, hängt der Kalender des Jahres 1999. Es ist ein Kalender zum Selberbasteln. Man kann Fotos hineinkleben oder Dinge, die Kinder malen. Meggy hat aus Bonbonpapier Szenen der Gefechte gegen das Japanische Kaiserreich nachgefaltet. Zum Teil recht kunstvoll. Alle Tage aller Monate dieses Jahres sind ausgekreuzt. Das Datum macht sie stutzig. Dann ist bald wieder Frühling? Sie kann sich nicht erinnern, was letztes Silvester war. War sie auf einem Hochstand gewesen, am Rand der Stadt? Dieses Jahr will sie eigentlich nicht auf die Party gehen, zu welcher alle Absolventen der High & Low High School die Mitglieder des Party Party Clubs eingeladen haben, aber wie sie sich kennt, wird sie hingehen. Wie lange ist es her, dass ich mit jemandem gesprochen habe? Sieben Tage? Neun? Die Party findet auf einem alten Kornsilo bei den Feldern statt. Und wenn niemand von den alten Leuten da ist, oder ich keinen wiedererkenne, dann gehe ich eben, dann esse ich eben ein paar Häppchen und saufe mein Alter in Sektgläsern und schaue vielleicht, wie meine Spucke in die schwarze Nacht fällt, aber dann bestelle ich mir eben ein Taxi, so erwachsen bin ich doch, dass ich mir mal ein Taxi bestellen kann zur Feier des Jahres. Sie überlegt sich für eine Weile, welchen ihrer Ex-Schulkameraden sie welche Vorwürfe machen könnte und wer welche Schwachstellen hat, nur für den Fall, dass sie in einen Streit gerät. Über ihrer Wolldecke liegen Handtücher. Das Haus der Coreys ist kalt und Heizen teuer. Behaglich schält sie sich aus ihrem warmen Nest. Sie zieht sich einen Morgenmantel aus dicken hellbraunen Karos über und eine Fellmütze an. In der rechten Manteltasche findet sie die halbe Packung Camel Lights, die sie sich gestern wohlweislich zugesteckt hat. Die ersten zwei Zigaretten, die sie auf dem Weg die Treppe hinunter in die Küche raucht, stillen in etwa ihre Nikotinabhängigkeit und imitieren stümperhaft das Gefühl, keinen Hunger mehr zu haben. Post ist keine gekommen. Wird am 31.12. überhaupt gearbeitet auf dem Postamt? Nicht, dass sie welche erwartet. Wobei klar, es gäbe schon Briefe, über die sie sich freuen würde. Meinetwegen auch eine Postkarte. Donna hatte Meggy einmal erzählt, dass ihre Mutter ihm ab und an Postkarten schickt. Das wäre nett gewesen. Ihr vielleicht zum Weihnachtsfest eine Postkarte zu schicken, ihr vielleicht zu verzeihen oder etwas mitzuteilen wie Meine liebe Tochter, jetzt haben wir uns beide eine Weile lang verletzt und missbraucht und haben geschaut, wer es länger ohne wen aushalten kann, und nun ist Schluss damit. Nun reicht es. Wir sollten uns die Hände geben und eine Familie werden. Immer Deine Mutter. Das wäre nett gewesen. Ihr Vorsatz für das neue Jahr: die Küche aufräumen. Zwei Drittel der Zimmer des Hauses sind nicht mehr zu betreten. Sie sind voll mit Zetteln, Zeitungen, Büchern, einzelnen Artikeln und Studien, Heften mit Themenschwerpunkten, Heften ohne Themenschwerpunkte. Manche Papierstapel mit Schnüren zu Paketen verpackt, daneben die Miniatur einer Industrienation aus VHS-Schornsteinen. Manches ungelesen, einiges mit Notizen an den Rändern oder gelben und pinken Klebestreifen auf wiederzulesenden Seiten. Meggy hat die Vermutung, dass eine Marderfamilie in ihrem alten Kinderzimmer wohnt. Um keinen Ärger zu verursachen, wirft sie ihnen manchmal Essensreste zu. Was auf der anderen Seite, wie Meggy weiß, aber was solls, Marderfamilien anlocken könnte, wenn denn doch keine in ihrem alten Kinderzimmer wohnen würden. Da es keine Post gibt, geht Meggy vor die Tür. Mit einem kurzen Aufheulen verschwindet die bis zur Hälfte gerauchte Zigarette im Schnee. Durch Kälte und Dunkelheit fällt der Rauch kaum auf, mit dem sich die Luft füllt. Jetzt ist es still. Meggy empfindet es als Luxus, Zigaretten nicht bis zum Filter zu rauchen. Und sie findet auch, dass sie sich den einen oder anderen Luxus leisten sollte. Sie schleicht zur Küche und tätigt die üblichen Morgenrituale. Feuer, Wasser, Teflon. Mit reichlich Öl brät sie sich Zwiebeln an und mit reichlich Milch und Honig trinkt sie ihren Tee. Eier, Schnittlauch, Pilze, Kartoffeln, Rosinen, frische Minze und ein Stück vom Bergkäse schneidet sie sich in ihr Omelett, zu welchem es Nudeln gibt. Irgendwelche Nudeln. Im Radio läuft Solitaire von den Carpenters und die zwei kleinen Küchenfenster sind beschlagen. Auf dem Tresen aus falschem Marmor stehen alte Widowed Bride-Flaschen mit Kerzen in ihren breiten Hälsen. Sie zündet sie an, denn sie liebt den Geruch von Wachs und das Licht einer Flamme am frühen Morgen. Der Mensch hat ein Verlangen nach den vier Elementen, hatte ihr einmal eine bärtige Prostituierte gesagt, nachdem sie sich gemeinsam Carrie von Brian De Palma angeschaut hatten. In dem Film verbrennt eine Schulaula, nachdem ein junges Mädchen aus der Folge von etliche Scherereien, die sie hat über sich ergehen lassen, von denen die schlimmsten wahrscheinlich die ewig langen und mühseligen Plansequenzen waren, in welchen ihr Schicksal inszenierte wurde, telekinetische Kräfte entwickelt und damit ihren gesamten Jahrgang und einige der Lehrer umbringt. Die einzige Überlebende hat für den Rest ihres Lebens Alpträume. Auf jeden Fall hatte Meggy nie verstanden, weswegen man Feuer als Element betrachtet, aber das kann auch daran liegen, dass sie, trotz der guten Noten, Naturwissenschaften nie ganz begreifen konnte. Karen Carpenter singt
–A little hope goes up in smoke.
Für Meggy war es immer einfacher, sich in Männer hineinzuversetzen als in Frauen. So kann sie gut nachvollziehen, wie es diesem Mann geht, der da einsam und allein Solitaire spielt, der seine Liebe durch Gleichgültigkeit verloren hat. Den alle Bewegungen nur weiter in die Einsamkeit führen. Um ihn herum wartet das Leben darauf, gelebt zu werden, doch er spielt Solitaire und das wars. Es ist erstaunlich, wie traurig dieses Lied ist, welches ja eigentlich ein fröhlicher Popsong sein soll. In Karen Carpenter allerdings kann sie sich nicht hineinversetzen. Von allen Tragödien der Musikgeschichte findet sie ihre am schlechtesten ausgedacht. Dass sich etwa ein Phil Ochs erhängt, das war vollkommen klar. Depressionen, Schreibblockade, Alkoholismus, Verfolgungswahn und tatsächlich von der CIA verfolgt werden. Damit ist es unmöglich zu leben, das stimmt, aber bloß weil diese Göre das Gefühl hatte, zu dick zu sein? Deswegen schmeißt sie sich in die Pillenschlucht? Naja. Kurz muss sie über Joseph nachdenken. Dann fragt sie sich, ob sie, wäre sie ein fetter Mann, glücklicher wäre, und legt ihre Hand zur Strafe ein paar Sekunden auf die heiße Pfanne. Es ist verboten, sich vorzustellen, wie das Leben im anderen Geschlecht ist. Sie wartet so lange, bis sie den Geruch ihres eigenen verbrannten Fleisches riecht. Jetzt erinnert sie sich wieder daran, wie ihr ihr linker kleiner Finger abgebrochen wurde und muss weinen. Dann erinnert sie sich an das Schicksal ihres linken Daumens und muss sich übergeben, doch ist sie so hungrig und hat kaum mehr Geld und kaum mehr Lebensmittel im Haus, dass sie es sich verkneift, nein, verbietet, den Mund zu öffnen, und, nachdem ein Schweißtropfen von ihrer Stirn bis zum Kinn herabgelaufen ist, schluckt sie schließlich alles wieder runter. Gierig denkt sie an etwas anderes, isst weiter. Unmerklich legen sich erste Sonnenstrahlen und Lichtflecken auf die Stadt. Erstmal ist alles blau. Erstmal wird die Nacht nur hell, mehr nicht. Mit einem ungetoasteten Toast aus der Toasttüte wischt sie alle Essensreste vom Teller. Dann stellt sie ihn zurück ins Regal. Das Besteck leckt sie sauber und legt es zurück in die Schublade. Wieder Gedanken an Joseph. Wie er sich auf seinem Anwesen erschossen hat. Mit Emilys Gewehr, was irgendwie befriedlich ist. Er hatte ganz langes Haar bekommen, zumindest sah es in den Nachrichten so aus. Ganz lang und fein, wie die Haare einer Prinzessin. Joseph gehört zu den wenigen Menschen, die ich wirklich vermisse. Die paar Nächte in Singapur. Gestreifte Schatten fallen auf das zerwühlte Bett. Es ist heiß. Sie liegen da, Joseph ist gerade auf Meggys Brüste gekommen. Sie schnappt nach Luft.
–Weißt du was,
sagt er
–Rauchen würde zu dir passen. Genauso wie Kirschholz und farbloser Alkohol.
–Findest du wirklich?
Er zündet sich eine der Nelkenzigaretten an, die hier an jeder Straßenecke verkauft werden, zieht ein paar Mal, dass es knistert, und steckt sie Meggy in den halb geöffneten Mund. Nie hatten sich ihre Lippen so reif angefühlt.
–Steht dir ausgezeichnet.
Meggy bekommt Rauch in die Augen und tränt, die beiden müssen lachen, sie schmeißt die Zigarette in ein halbleeres Glas Beefeater, ohne dass ein Geräusch entsteht, und legt sich auf seinen Bauch.
–Dein Bauch macht irgendwie Geräusche.
sagt sie und spielt an seinem Schamhaar herum. Und an diese Geräusche, diese Melodie musste sie denken, vor ein paar Wochen bei der Beerdigung. Sie und ungefähr tausend andere waren gekommen, Musikbegeisterte, Schaulustige und -traurige, Freunde, Verwandte, Liebhaber, Lenny natürlich und Nataly. Einige der Eltern. Die MacNashs, Steve Albini, Stephen Malkmus, Elenore und Rebecca Heithworth, Greg Sage und unerwarteterweise auch Miranda Quickpath, welche aber vornehmlich mit Nataly reden wollte. Sie und Joseph kannten sich kaum. So nah wie vor seinem Grab standen sich Joseph und Miranda noch nie. Miranda erzählte Meggy etwas später alles, was sie von Nataly über ihr Leben der letzten Jahre zu sagen hatte. Sie hatte ihr, also Miranda Meggy, verraten, dass sie, Nataly, letztendlich doch mit Joseph zusammengekommen war, damals, wie sie ihr erstes Kind verloren hatte. Sie war Joseph hinterhergereist, natürlich auf Kosten des Professors, der ihr alles bezahlte, was sie wollte, dass sie nur endlich aus dieser elenden Traurigkeit herauskäme. Sie sei auf jedes der Konzerte gegangen in den Vereinigten Staaten und in Europa und Asien. Sie sei ein richtiger Groupie geworden und habe gespürt, wie Joseph nur für sie singen würde. Und eines Abends habe er sie dann erkannt auf einem Konzert, unter all den anderen Menschen, mitten unter all den anderen Menschen im Publikum habe er sie erkannt, sie sei ihm erschienen, habe er ihr später gesagt, und er habe sie auf die Bühne gerufen, und man habe sie auf die Bühne getragen, auf Hunderten von Fingerspitzen, von ganz hinten, hatte Nataly Miranda erzählt, von ganz hinten einmal über das gesamte Publikum, und er habe ihre Hand genommen, die ganz heiß und zittrig war, und er habe die Show unterbrochen und ihr einen Kuss gegeben und die Band, die habe einen Hochzeitsmarsch gespielt, diese Verrückten, so hatte Nataly sie immer genannt, diese Verrückten, und es sei der vielleicht schönste Moment in ihrem Leben gewesen, der vielleicht allerschönste Moment in ihrem Leben. Und fortan lebte sie zusammen mit Joseph und den Verrückten und manchmal waren sie auf Tour und manchmal bei Joseph auf dem Anwesen, und es war schön und wesentlich, aber dann befiel Nataly mit einem Mal diese Traurigkeit, sie musste an das Kind denken, welches ihr genommen wurde, welches ihr aus dem Kinderwagen gestohlen wurde, und da wusste Joseph, dachte sich Nataly, dass sie erst glücklich seien mit einem neuen Kind, und wenn alles, was mit dem alten Kind zu tun habe, weg sei, ein für alle Mal für immer weg. Also gingen sie gemeinsam, als Paar, zu Natalys alter Wohnung und stopften alles in einen Sack, was mit dem alten Kind zu tun hatte, und den Sack verbrannten sie gemeinsam am Strand, als Paar, und so konnte Nataly beginnen zu vergessen, dachte sie, dachte er, doch es ging nicht. Der Professor war noch da, er war ja immer noch da, aber was konnte er denn dafür?, und so haben sie ihn nicht in einen Sack getan und nicht verbrannt, und die Dinge liefen ihren Lauf, und sie arrangierten sich mit der Traurigkeit, und eines Morgens sei Nataly schlecht geworden und sie habe sich erbrechen müssen, und da wussten die beiden, dass sie bald ein neues Kind haben würden, ganz für sich alleine. Ein Kind das niemandem gehört außer uns, sollen Nataly und Joseph immer wieder gesagt haben, niemandem außer uns. Ein ganz eigenes Kind. Und so seien die Monate verstrichen, einer nach dem anderen, und Natalys Bauch sei immer größer geworden, und sie lächelte viel, vielleicht zu viel, dachte sich Nataly, würde Joseph denken, aber sie konnte es nicht kontrollieren. Immerzu habe sie gelächelt, bis sie nicht mehr wusste, ob sie wirklich lächeln musste, oder ob sie nur wollte, dass Joseph denkt, dass sie glücklich sei, so verdammt glücklich einfach, und immer wenn sie lächelte, musste sie an ihr altes Kind denken und an den Professor, und so verbanden sich in ihren Gedanken das Lächeln und der Hass auf den Professor, der mit jedem Lächeln wuchs und größer wurde. Sie konnte nur mehr an den Hass denken, den sie beim Lächeln empfand, und nicht mehr an das Kind, welches in ihrem Bauch strampelte, sondern nur mehr an den Professor, und dass er sterben müsse, habe sie zu Miranda gesagt. Dann setzten die Wehen ein, irgendwann inmitten der Nacht, und Joseph war die ganze Zeit bei ihr gewesen, und er hatte einen Arzt gerufen und der Arzt sei gekommen, oder eine Hebamme, das wisse sie, Miranda, nicht mehr so genau, ob nun Arzt oder Hebamme. Und als der Arzt oder die Hebamme den Kopf des Kindes gesehen hatte, da habe sich der Gesichtsausdruck ganz verändert, da sei er mit einem Mal ganz hart geworden, das habe Nataly klar beobachten können. Und auch Josephs Gesichtsausdruck habe sich schlagartig verändert. Nataly meinte Angst im Gesichtsausdruck von Joseph lesen zu können, ob des Kindes, so Miranda, denn, was da aus ihrem Unterleib kam, das war kein Mensch, sondern ein Stein. Das Kind sei zu einem Stein geworden in ihrem Bauch, und die Geburt war sehr schmerzvoll, und am Ende lag ein Stein in der Mitte von Josephs Schlafzimmer in Josephs Anwesen und eine Lache wässrigen Blutes drumherum. Und Nataly habe nichts tun können, als den Stein anzuschauen, der ein wenig aussah wie ein kleiner zusammengerollter Braten, und den Stein zu streicheln und zu sagen, dass der Stein Benjamin heißen soll, und dass man den Stein in das Kinderzimmer legen solle. Und dann sei sie eingeschlafen, sei sie ruhig eingeschlafen, mit einem Lächeln auf ihrem Gesicht, mit einem echten, tiefen Lächeln, und alle ihre fürchterlichen Gedanken seien weg aus ihrem Körper, und seit einer langen Zeit träumte sie zum ersten Mal einen friedlichen Traum. Und so habe sie für ein paar Tage geschlafen, nur für ein paar Tage, meinte Miranda, habe Nataly gemeint, und es sei eine gute Zeit gewesen, daran habe sie sich noch erinnern können, das habe sie noch gewusst, dass es ein guter und friedlicher Schlaf gewesen war, doch alle gingen davon aus, dass sie ihn nicht überlebt. Und da war Joseph so wütend, er war so wütend, dass sein Sohn ein Stein war und dass seine geliebte Frau im Sterben lag, dass er gar nicht wusste, was er mit all der Wut machen sollte, dass er nur noch einen Gedanken hatte, dass er nur noch wollte, dass die Person, die dafür verantwortlich gewesen sei, so meinte Miranda, habe Nataly gedacht, dass es Joseph durch den Kopf feuert, verantwortlich für all das, endlich weg müsse, dass diese Person schlicht und einfach ganz weg müsse. Und so hat Joseph Benjamin genommen und den Professor damit erschlagen. Mehrmals schlug er auf ihn ein, auf seine sich schützenden Hände und auf seine Glatze. Und wie er nach Hause kam, wie ihn Nataly nun mit verächtlichen Blicken empfing, nachdem Nataly nun erwacht war und ihn, ihren Geliebten, mit verächtlichen Blicken empfing, da wusste er, dass etwas falsch war in seinem Leben, dass schon immer etwas falsch war in seinem Leben und dass er es nie würde wiedergutmachen können, dass ihm Nataly nie verzeihen würde, dass er den Professor getötet hatte, aber noch weniger, dass der kleine Benjamin nun eine Mordwaffe war. Das war ihr nicht möglich zu begreifen, wie man einem Kind so etwas antun könne. Wie man seine Unschuld so beflecken könne, das sei ihr nicht möglich gewesen zu begreifen, bis heute sei ihr das nicht möglich, dass das das Leben wohl noch früh genug machen würde, mit den Kindern, das sei unabwendbar, dass sie schlecht würden, mit der Zeit, aber dass doch Eltern ihre Kinder so lange als möglich beschützen müssten vor dem Leben und der Grausamkeit und der Einsamkeit. Und der Traurigkeit, das habe Nataly gesagt, der Traurigkeit. Da habe Joseph Nataly angeschrien, hatte Nataly zu Miranda gesagt, die schon ganz außer Atem war vom vielen Weinen und Erzählen, die sich mit Meggy auf eine Bank setzen musste, er habe sie angeschrien und Benjamin genommen und geschrien.
–Das ist kein Kind! Das ist ein Stein! Nichts weiter als ein Stein!
Und da habe Joseph Benjamin genommen und ihn auf den Boden geschlagen, wie er mit ihm auf die Glatze des Professors geschlagen hatte, und er sei aber nicht sofort zersprungen, sondern erst nach ein paar Hieben, die so laut waren auf dem Marmor, dass man es nicht aushalten konnte, und Nataly hatte sich die Hände vor das Gesicht gehalten, weil sie es nicht aushalten konnte, und dann sei Benjamin entzweigebrochen, und aus den Splittern sei eine dickflüssige rote Flüssigkeit getropft, wie etwa, wenn man einen Löwenzahn abschneidet, wie da etwa aus dem Halm auch eine dickflüssige Flüssigkeit tropfen würde, so habe Nataly das formuliert, habe es ausgesehen, wie bei einem Löwenzahn, und als Joseph das gesehen hatte, da sei er sofort in den Garten gegangen, da habe er sich sofort eine Sonnenbrille aufgesetzt und ein kleines Messer genommen und sei in den Garten gegangen und er habe sich auch sofort die Springfield M 1855 genommen, die über dem Kamin hing, und er sei damit in den Garten gegangen und dann habe Nataly bloß noch einen Schuss gehört, und wie sich ihr Körper gerade in einen Sumpf verwandeln wollte, da habe sie ein weiteres Geräusch gehört, und dieses Geräusch sei das Schreien eines kleinen Kindes gewesen, und wie sie auf den Boden schaute, habe sie einen nackten Babyjungen gesehen, der lächelt. Und jetzt sei Benjamin schon ein paar Monate alt und es sei sehr schön, und Geld sei auch genügend da, und sie habe viel zu tun mit dem Erbe des Professors und mit dem Erbe des Musikers, und daher habe sie in näherer Zukunft eher keine Zeit, sich nochmal mit Miranda auf einen Kaffee zu treffen, vielleicht aber in der ferneren, habe sie dazu gesagt, und das sei doch nett gewesen, und das Einzige, woran ich mich momentan festhalten kann, ist die fernere Zukunft, und sonst an nichts. Miranda schaute eine Weile auf die sich verkleinernde Trauergesellschaft, dann sagte sie nichts mehr. Ein paar Bäume standen leer auf dem Friedhof. Meggy drückte Mirandas Hand. Es gab nichts zu sagen. Sie drückte einfach diese Hand und hoffte, bald wieder zu Hause zu sein. Was sind das wohl für Bäume, fragte sich Meggy, die eine sehr gute Heimstereoanlage in ihrem Wohnzimmer aufgebaut hat, importiert aus Großbritannien. Die etwa hüfthohen Boxen haben ein Chassis aus dunklem Holz und über die beiden Membranen ist ein schwarzes Netz gespannt. Sie stehen auf kleinen Pyramiden, die die Schwingungen abfangen sollen, welche die Boxen sonst auf den Boden übertragen würden, wodurch der Bass die Mitten zerreißt. Sie mag, wie der Röhrenverstärker ein bisschen aussieht wie das Labor eines Wissenschaftlers und der Schallplattenspieler wie ein zeitgenössischer Grabstein. Sie legt eine Erstpressung der Church Music LP auf den Teller, betätigt den Riemenantrieb auf 33 Umdrehungen pro Minute und hebt die Diamantnadel auf die innerste Rille der Platte. Die Besonderheit der Pressung ist nämlich, dass die Rillen, also der Ton, vielleicht Musikspirale, nicht von außen her zum Label zuläuft, sondern vom Label, sprich dem Herz der Schallplatte weg bis nach ganz außen, dem Rand, wo es dann in einen Loop des letzten Akkords mündet. Sie mutmaßt, dass das Letzte, woran Joseph wohl gedacht hatte, bevor er sich in den Kopf schoss, Lenny war. Vielleicht, wie sie gemeinsam musiziert haben oder ein Besäufnis im Probenraum. Eins von etlichen gemeinsamen Besäufnissen, aber kein spezielles, einfach eins der ersten, ein unschuldiges, damals, wie sie noch keine Träume und Wünsche hatten. Als sie ungefährlich waren. Als sie wissen wollten, wo man Hasch herbekommt. Und was das für ein Gefühl ist, wenn sich Lippen um einen Penis schließen, oder wo man das Geld für ein Effektgerät auftreibt. Als die Welt noch aus Küchenstühlen und Teppichböden bestand. Als es egal war, ob man in Edelstahl oder Plastik ascht, als es um die Zigaretten ging und nicht um die Aschenbecher. Meggy schenkt sich ein Glas Vormittagsport ein, zur Begrüßung der Sonne, die sich nun endlich ganz aus dem Atlantik herausgetraut hat. Nach der Kündigung bei der New England Times bekam sie keine neue Einstellung als Journalistin. Nirgendwo. Sie schlägt sich durch mit Cartoons und Karikaturen, die sie für kleinere Zeitungen und Magazine macht. Die Arbeit an einem umfassenderen Comic, an einem Werk, hatte sie nach wenigen Wochen aufgegeben. Was auf ihre Unfähigkeit zurückgeht, mit Zeitabläufen, Längen, Kurven und Entwicklungen umzugehen. Für sie war alles klar, alles kurz, und sie erträgt das Maß an Behauptung nicht, welches sich ab fünfzehn bis dreißig Seiten einfach einstellen muss. Davon abgesehen, dass sie ein Problem mit dem Zeichnen hat, beziehungsweise es nicht beherrscht, sie immer nur schlagfertig gewesen war, sie Pointen liebte, sie immer eine Pointe parat hatte, ihr Geschichten aber suspekt waren. Das Direktiv des Epos ist ihr abstoßend, anmaßend, hochstaplerisch. Verleumdung. Proteinliteratur. Holly Cello soll einmal behauptet haben, das Leben schreibe die langweiligsten Geschichten, sie aber die besten. Ihre Mutter hatte ihr einmal gesagt, das war kurz nach der Beerdigung des Vaters, der Mensch wachse in Wunden. Meggy hatte erwidert, dass am Ende ja doch alle tot seien und die meisten Toten Asiaten. Beglückt setzt sie sich an ihren Arbeitstisch, einem mit einer schrägen Arbeitsplatte und grüner Schreibunterlage aus Leder, und zeichnet ein Comic. Ein ins Endlose ragender Friedhof, ein Trauerwald, Kreuze und irgendwo klein zwischen den Strichen die Brille des Protagonisten. Er selbst ist verschwunden. Die Sonne scheint von rechts oben nach links unten. Dann, nach einer Weile, über ihm ein Kasten mit der Bildbeschreibung. Am Ende werden alle Menschen tot sein und die meisten Toten Asiaten. Erst jetzt wird ihr klar, dass der Protagonist nicht mehr der Protagonist ist, sondern ein Kreuz. Ohne es zu wissen, hat Meggy das letzte Panel der Serie gezeichnet. Unten setzt sie Datum und Unterschrift. Sie schaut es sich in Ruhe an, kontrolliert Schatten und Perspektive und legt das Papier schließlich auf den Stapel mit zum Verkauf geeignetem Material. Allmählich begreift sie, dass sie soeben das letzte Panel der Serie gezeichnet hat. Vita Diminutiva ist somit beendet. Zufrieden schenkt sie sich einen Glückwunschsport ein und denkt an einen Fanbrief, in dem ihr jemand schrieb, dass Vita Diminutiva das Beste sei seit Life is Hell von Matt Groening. Einmal tanzte Meggy auf zwei Beerdigungen gleichzeitig. Überhaupt war sie schon auf etlichen Beerdigungen. Ist das ein Kriterium für ein erfülltes Leben? Wenn man schon auf etlichen Beerdigungen war? Wenn man viele Tote kennt? Hat man dann nichts ausgelassen? Oder hat man eher dann nichts ausgelassen, wenn man beerdigt wird? Was sie am meisten hasst, sind Priester. Bevor auf meiner Beerdigung jemand spricht, den ich überhaupt nicht kenne und der womöglich nichts als Unsinn erzählt, weil der gar nicht begreift, wie man von mir redet, der die Untertöne nicht versteht mitschwingen zu lassen, soll lieber niemand etwas sagen. Auf meiner Beerdigung sollen höchstens die ersten drei Gundam-Filme gezeigt werden, Mobile Suite Gundam I, Mobile Suite Gundam II: Soldiers of Sorrow und Mobile Suite Gundam III: Encounters of Space, und das war es dann. Wenn die Leute wirklich weinen wollen, sollen sie weinen, weil ein Kampfroboter von einem Laserstrahl getroffen wird, und weil sie bei diesem Kampfroboter vielleicht an mich denken müssen, aber doch nicht, weil jemand erzählt, was ich für ein einfühlsamer flüchtiger Bekannter war. Bei meiner Beerdigung soll es Explosionen im Weltall geben, Galaxien, die von Tyrannen regiert werden, und Schwerter aus purer Energie, aber doch keine Lieder über einen Hafen oder sonst so eine schreckliche Metaphorik. Weltraumhäfen, meinetwegen, aber doch keine metaphorischen Häfen, es soll doch bitte niemand das Wort Reise verwenden nach meinem Tod. Ich will keine Reisen mehr machen. Ich wollte nie Reisen machen. Das nervt so an Jesus, dass der ein derartiger Tiefstapler war. Nichts als Geringfügigkeiten und Taschenspielerein. Brot zu Wein oder Brot für alle oder Fisch für alle oder auf dem Wasser gehen oder Kranke heilen oder Verzeihen oder Leiden oder Sterben und Auferstehen. Erbsenzählerei! Ganz anders ein Mann wie Moses, der ein Meer teilt. Oder sieben Plagen heraufbeschwört. Da konnte man auf Kreta am Strand plätschern und sah, wie die Heuschrecken das Land vernichten. Oder wie der ganze Nil Blut wurde, da wussten alle Bescheid in Ägypten. Und Jesus? Krimskrams, mehr nicht. Wenn man da nicht ganz genau aufgepasst hätte, wäre niemandem aufgefallen, dass die Extraportion Brot ein Wunder ist. Aber der wird dann zum Symbol des Christentums, ein Strich in der Landschaft, ein Kreuz auf dem Hügel, warum können denn nicht bitte die Ungeheuer der Johannes-Offenbarung stilisiert werden? Warum denn ein Fisch? Warum nicht ein Regen aus Fröschen oder vier mit Seuchen beladende Reiter? Das wäre jetzt nicht weniger morbid als der ans Holz genagelte Gottessohn. Mit Opfern und Untertreibern will Meggy nichts zu tun haben, nein, dieses feine mitteleuropäische Understatement will sie auf ihrer Beerdigung nicht, dann lieber die Gundam-Filme. Nachdem sich Meggy den letzten süßen Schluck Port hat über die Zunge rinnen lassen, schaltet sie die Anlage wieder aus, die Platte dreht sich langsam in den Stillstand, und geht ins Bad zur morgendlichen Waschung. Sie duscht in ihrer Badewanne, seift sich ein mit echter Seife und schäumt sich ihre Haare. Während das Shampoo bis tief in die Wurzeln und Spitzen dringt, isst sie einen Schokoriegel mit Erdnüssen. Nach dem Ausspülen steckt sie sich eine Camel Light an und entfernt die Haare von ihren Schultern und Knien. Außerdem putzt sie sich mit einem kleinen Lappen die Zwischenräume zwischen den Zehen. Sie putzt sich die Zähne. Meggys Mutter hatte Meggy einmal erzählt, dass Zähne erst dann als geputzt gelten, wenn die Zahnpasta sich rosa verfärbt hat. Diese Technik täglich anwendend, braucht es mitunter um die zwanzig Minuten, bis sie sich selbst dazu überwinden kann, auszuspucken. Sie hat ausgezeichnete Zähne und lila Zahnfleisch. Sie findet es nicht fair, dass Joseph die Liebe ihres Lebens ist und sie exakt dieses Gefühl mit mehreren Mädchen und Jungen teilen muss, die auch nicht auf Erwiderung hoffen können. Es gibt Leute, Leute wie sie selbst, die nie irgendjemandes Liebe des Lebens gewesen waren oder sein werden, während andere, ähnlich Nataly Hay, ganz vielendermenschs Liebe des Lebens sind. Dass es da Unterschiede gibt. Unterschiede, die beiden, den Geliebten und den Ungeliebten, bewusst sind. Dass die Menschheit ungleich geschaffen ist. Wenn also niemand ernsthaft davon ausgeht, dass alle Menschen gleich sind, warum ist dann die Verfassung auf dieser Fehlannahme aufgebaut? Wäre es nicht stimmiger, ein Grundgesetz zu etablieren, welches Schwache verteidigt und Starke weniger? Einfach ernsthaft weniger? Wo es viele gibt, die ihr Leben lang krank sind, zerschmettert und einsam, die gehasst werden und dann sterben. Zum Mittag macht sich Meggy einen Fruchtsalat. Der Portwein stimmt sie müde. Schwer und müde. Und kein Vitamin ist imstande, dagegen aufzubegehren. Wenn die Vitamine denn den Kampf gewinnen, den sie in der Schüssel gegen Mayonnaise und Sirup antreten müssen. Sie legt sich auf die Couch neben den Herd, zieht ein Bettlaken über sich und atmet laut. Sie versucht zu schlafen, doch es ist ihr eigener Atem, der sie so ungemein stört. Bilder der Jugend benetzen die rotschwarzen Gewebevorhänge ihrer Augen. Das Pärchen, welches den Unfall mit dem Lastwagen überlebt. Dieser merkwürdige Unfall. Ihr erster Leitartikel. Warum war dieses Pärchen so glücklich gewesen, sie verstand es nicht. Der Lastwagenfahrer spricht zu ihr.
–Was hast du gesehen? Was war das Letzte, was du gesehen hast?
–Mich selbst. Als kleinen Jungen. Ich war im Blick des Mannes und im Bauch der Frau. Ich wusste, würde ich sie erwischen mit meinem Lastwagen, ich wäre niemals gewesen. Ich selbst war es. Ich war das Pärchen. Unsere Schicksale sind verbunden, Meggy, du musst dich opfern, um geboren zu werden. Wenn du das Pärchen siehst, wirst du verstehen.
Jemand gibt ihr einen Kuss. Es ist der wütende rothaarige Junge, er hat sich zu einen Mann verwachsen. Er trägt einen festen Bart und Eyeliner. Sein Gesicht hat die Farbe der Wüste. Das einäugige Mädchen hält sich an seiner rechten Hand fest. Sie ist jünger geworden. Sie ist jetzt ein Kind und beide Augen fehlen ihr. Aber sie trägt keine Binde, keine dunkle Brille, sie trägt die vernarbten Augen.
–Wir wachsen in Wunden, Meggy.
sagt sie und dabei hinterlassen ihre roten Schnürschuhe Fußstapfen aus herabgefallenen Haselnüssen. Meggy fühlt, wie sich die Zunge des rothaarigen Mannes in zwei Zungen verwandelt, dann in vier und acht. Ihre Mundhöhle ist ein wurmstichiger Apfel. Beim Schlafen hat sie sich einige eingelegte Gürkchen in den Mund geschoben, die auf dem Tisch in einem Glas schwammen. Träumen ist der letzte Dreck. Ihre größte Angst ist es, dass mit dem Tod ein ewiger Traum beginnt. In Meggys Bücherregal stehen drei Bücher von Holly Cello: die beiden Romane und eine Sammlung von Skizzen, Kurzgeschichten und lyrischen Versuchen, welche unter dem Titel Die schlechtesten Gedichte publiziert wurde. Es ist erstaunlich, wie hart die Kritik mit Brokkoli Zwei umgegangen ist. Cello hatte probiert, der allseits bekannten Problematik des zweiten Romans dadurch zu entgehen, dass sie die Fortsetzung zu einem fiktiven Roman namens Brokkoli geschrieben hat, praktisch das zweite Werk übersprang, um sich direkt ans dritte zu machen, doch es half nichts. Man nahm ihr alle Glaubwürdigkeit als Autorin und verglich sie mit etwaigen Schriftstellern aus Kanada. Nicht, dass Holly Cello die Arbeit ihrer kanadischen Kollegen nicht wertschätzen würde, doch sie weiß, dass es böse gemeint war. Im Vorwort skizziert sie kurz den Inhalt des ersten Teils. Brokkoli oder auch Brokkoli Eins erzählt die Geschichte einer Frau, welcher aus der Gebärmutter zu ihrer Menstruation kein Blut entrinnt, sondern Honig. Lange kann sie diese Abartigkeit vor ihren Schulfreundinnen und Eltern in Osaka verbergen, doch ihr Verhalten wirkt komisch und schnell wird sie zur Außenseiterin. Freunde und Familie werden ihr fremd. Eines Tages kommt es, wie es also kommen muss, und aller Umstände zum Trotz verliebt sie sich in einen Mann. Diesem verwehrt sie zwar zunächst aus Schüchternheit, Scham und Angst allen intimen Kontakt, doch wird sie ihrer Lust ab etwa sieben Monaten nicht mehr Herr. In einer stürmischen Nacht, es regnet, donnert und der Wind lässt Äste ans Fenster schnellen, ziehen sie sich gegenseitig aus, um aneinander herumzuspielen. Die Nase des Mannes steckt in ihrem Bauchnabel. Er liebkost ihre Hüften und flüstert allgemeine, aber gültige Zärtlichkeiten an ihr entlang. Dann küsst er sie zwischen ihren Schenkeln und es ist ihm das größte Glück im Leben. Er fühlt die Einheit der Menschen, die Zusammenhänge der Natur, sieht seine Vergangenheit klar vor sich, schärft den Blick für die Zukunft und bekommt Anweisungen seiner Ahnen, die Familienaufgabe betreffend. Er kennt die Namen der Bäume und spricht die Sprache der Vögel. Es ist der Geschmack Gottes. Und so leckt er sich für Stunden Kiefer taub und Zunge wund. Die Frau genießt diese Zeit ebenso. Zum ersten Mal in ihrem Leben ist sie jemandem wirklich nah. Doch eines Abends muss sie ihn im Zaum halten. Ihre Regel würde nun einsetzen und wie schön es auch sei, sie brauche Ruhe. Der Mann akzeptiert die Entscheidung seiner Geliebten, doch in der dritten Nacht, in welcher er still neben ihr zu liegen hat, kann er nicht anders, als vom Honig der Frau zu naschen. Nie hatte er ihn frisch kosten können, nie wäre er geflossen wie in dem Land der Milch. Er spreizt also ihre Beine und golden glänzt es ihm entgegen, sein Nektar, und so vergeht er sich. Als die Frau nach einer Weile zu sich kommt, stößt sie den Dieb brutal von sich. Tollwütig springt er von einer Ecke des Zimmers in die nächste, seine Augen tiefschwarz und geil, sein nackter Körper verschmiert mit etwas, das wie Karamell aussieht. Er hatte den Verstand verloren. Sie schaut an sich herunter und fühlt einen leichten Schmerz. Wäre sie später aufgewacht, der Mann hätte sie gegessen. In der Nachbarschaft spricht sich schnell herum, dass die Frau den so lieben Mann verrückt gemacht hat, warum, das wisse man nicht, aber der Frau bleibt nichts anderes übrig, als Familie und Freunden den Rücken zu kehren, um sich in einem anderen Stadtteil nach einer Heimat umzuschauen. Unverheiratet und entjungfert findet sie ausschließlich in einem Bordell Verständnis. Schnell macht sie sich einen Ruf und alle wollen von ihr kosten, sowohl Männer wie Frauen. Die einzige Bedingung, die sie stellt, ist, dass sie zu einer gewissen Zeit im Monat nicht arbeiten braucht, und natürlich gewährt die großherzige Bordellmutter ihr diesen Wunsch, wenn sie ihn auch nicht ganz nachvollziehen kann. Leider sind alle anderen Huren neidisch auf ihren Erfolg und wünschen ihr einen grausamen Tod. Sie lüften ihr Geheimnis und legen ihr nachts Brokkoli zwischen die Beine, um ihren Honig zu stehlen. Nach einer Weile haben sie so viel Brokkoli, dass sie ein großes Fest für alle Freier des Hauses machen, nur ihre erklärte Feindin laden sie nicht ein. Diese steht, erneut allein gelassen von allen, vor einer verschlossenen Tür und lauscht und schluchzt. Den Gästen schmeckt der gedämpfte Brokkoli ausgezeichnet. Sie empfinden ein so starkes Mitgefühl für die Welt und eine so große Liebe. Die Ausgeschlossene weiß um ihre Position, sie weiß, dass sie unerwünscht ist, dass sie sich, ohne es zu wollen, Feinde gemacht hat, und dass sie hier nicht bleiben kann. Ein allumfassendes Gefühl der Isolation, welches sie schon ihr ganzes Leben lang mit sich trägt, packt sie an ihren Schultern und schmeißt sie hinaus in die Nacht. Wäre sie noch etwas geblieben, sie hätte die Schreie hören können. Die Gäste begannen miteinander zu schlafen und aßen sich schließlich alle auf. Die Frau aber bleibt verschollen. Hier endet, so Cello im Vorwort, die Erzählung Brokkoli oder eben Brokkoli Eins. Der zweite Teil beruht eher vage auf dem ersten, bedient sich eher einer Thematik, könnte man sagen, verfolgt eher Motive und gibt dem Leser Vermutungen auf, etwa ob die Chefin des Unternehmens, welchen den Brokkoli-Karotte-Kinderbrei verkauft, ob diese Frau etwa die namenlose Frau aus dem ersten Teil ist. Meggy zieht sich die Winterjacke aus Kuhfell an, dann ihre festen Schuhe. Ihr Besuch kommt erst in zwei Stunden und sie wollte noch bei Bobby im Diner vorbeischauen. In der Hoffnung, dass ihre Mutter eines Tages zurückkehrt und den Schlüssel vergessen hat, schließt sie die Haustür nie ab, und Angst vor Einbrechern hat sie keine, ganz im Gegenteil, ein Einbruch, das wäre was, sie könnte den Täter beispielsweise auf frischer Tat – mit dem Recht auf den ersten Schuss – erwischen, oder er könnte überall Spuren im Haus hinterlassen, welche sie in kriminalistischer Kleinarbeit zu einem psychologischen Profil verarbeitet. Tatsächlich liegt Schnee. Vornehmlich auf den Fichten, weniger auf den Hausdächern. Die Eingänge des Darkmart wurden geschippt, Salzwege bilden eine Art Raster oder Spazierimperativ. Meggy raucht an der eisigen Luft. Von weitem schaut sie einem glücklichen Dromedar ähnlich, das ein Stück heiße Kohle im Maul hat. Kälte ist schon immer ihre Lieblingstemperatur gewesen. Sie bekommt rote Bäckchen und nie Fieber. Sie strahlt und flaniert ausgiebig. Ihre Socken halten ihre Füße warm. Ein letztes Mal in diesem Jahr schaut sie sich Beetaville an, die Bushaltestellen, die vulgären Schmierereien, die Postkästen mit den roten Wimpeln, die Vorgärten und Wiesen, das Footballfeld mit dem Go High & Low High School-Banner, die Eltern, Elternhäuser und Kleinhaushälften. Und wie der Schnee fällt, gnadenlos und sanft. Ein Hund bellt in der Ferne. Das Diner grinst ihr entgegen wie ein nächtlicher Kühlschrank. Meggy bestellt das Miles-Menü, welches Bobby zu Ehren seiner verstorbenen Verknalltheit vom letzten Herbst auf die Karte genommen hat.
–Hast du Lust, dir eine Flasche Sekt mit mir zu teilen?
–Gerne.
Holly Cello sitzt schräg gegenüber von den beiden. Sie beachtet sie nicht. Sie kaut auf ihrem Bleistift herum, schaut zum Fenster und macht sich keine Notizen. Sie wünscht sich einen Hirntumor wie Charles Whitman einen hatte, eine Krankheit, die alles erklären könnte. Sonst ist das Diner leer. Die Menschen feiern mit ihren Familien und Freunden. Bobby trägt einen Spitzhut.
–Jedes Jahr zu Silvester schaue ich The Texas Chainsaw Massacre. Das soll nicht traurig klingen, aber wie ich den Film zum ersten Mal sah, das war in dem Jahr, in dem Benjamin MacNash umgebracht wurde, musste ich so weinen. So schrecklich weinen. Ein kleiner Junge. Aber schön war das. Zum Schluss ist da diese Einstellung, wo der dicke Mann mit der Kettensäge im Gegenlicht steht. Er tanzt herum mit seiner Kettensäge, malt Bilder mit ihr in die Luft und es wirkt, als wäre er sehr böse, oder als wäre er glücklich in diesem Moment, wir sehen sein Gesicht ja nicht, aber der Himmel hat die Farbe von Gemeinem Flieder. Doch egal wie schlimm es kommen mag, für einige gibt es Hoffnung.
–Sicher.
–Schau mich an, was bin ich albern, jetzt muss ich weinen, weißt du, manchmal könnte ich den ganzen Tag weinen, und dann ist alles wieder gut und ich muss lachen. Dann bin ich so fröhlich und leicht, aber ich weiß nicht, warum. Dann denke ich über mich selbst nach und über meinen Vater, und gelegentlich, Meggy Corey, weißt du das eigentlich?, da denke ich über dich nach. Wie du in diesem Haus sitzt, jeden Morgen, mit deinem Radio. Du hast doch ein Radio, oder? Immer schon wollte ich wissen, ob wir auf einem Planeten leben. Auf einem richtigen Planeten, wie in den Büchern und Filmen, mit einer Atmosphäre um uns herum und vielleicht einem ganzen Weltall. Aber woher sollen wir das wissen?
Er klopft auf den Tisch.
–Hörst du das?
–Ja. Sicher.
Er klopft wieder.
–Hörst du das?
–Ja.
–Meggy, aber ich nicht, ich weiß nicht, ob ich das höre. Verstehst du?
Ein dunkler Geruch zieht aus der Küche ins Diner. Bobby schaut, was vor sich geht. Er hat einen Wurzel-Bratling auf dem Grill vergessen. Und zum ersten Mal seit vielen Jahre flucht er auf Schwedisch. Holly Cello tupft sich ihre Mundwinkel mit einer rotkarierten Serviette ab. Sie nimmt sich ihren Nerzmantel und schlendert zu Meggys Tisch. Die beiden Frauen schauen sich an, eigentlich wissen sie nichts voneinander, gar nichts. Meggy nimmt Hollys Hand. Sie verlassen das Diner. Gemeinsam betreten sie die Stadt. Sie wandern. Und Hollys starke Finger fühlen sich ganz fest an. Und Meggy will Holly sofort ihren letzten Daumen schenken, doch diese lehnt ab. Irgendwann bleiben sie vor Meggys Haus stehen. Holly löst den Griff. Und geht. Es ist gut, allein zu sein. Meggy denkt an etwas, was Bobby gesagt hatte. Wie dumm es war. Sie wird es vergessen. Leise über ihr die Motoren eines Flugzeugs. Die Straßenlaternen. Da, wo eben noch Holly Cellos Schatten war, der sich in Dunkelheit verwandelt hat, kommen zwei Lichter auf sie zu. Reifen drücken den Schnee unter ihnen glatt. Meggy geht ins Haus. Sie will nicht, dass er denkt, sie würde draußen auf ihn warten. Sie liebt die Kälte zwar, aber was weiß er schon. Im Spiegel, bösartig, hinter einer Schlucht, ihr eigenes Gesicht, der Anblick eines Freundes. Sie glimmt. Das Licht der Scheinwerfer fällt durch die Haustür, langsam kommen Schritte näher. Es klopft. Meggy wartet drei Sekunden und öffnet die Tür.
–Geh schon mal ins Wohnzimmer und zieh dich aus, ich komme dann gleich.
Der Mann tut, wie ihm befohlen wird. Er findet es etwas düster in der Wohnung, sagt aber nichts. Er stößt sich stumm sein Schienbein am Couchtisch. Meggy geht in die Küche und holt eine Schere. Ihm wirft sie eine Bierdose in den Schoß, sich selbst gießt sie einen Port ein, dann noch einen. Sie wünschte, sie wäre betrunken. Sie durchstöbert ihre Plattensammlung und legt dann eine LP auf, auf welcher berühmte europäische Kirchenglocken zu hören sind. Etwa der Campane di San Pietro in Rom, die Lullusglocke in Bad Hersfeld oder der Emmanuel in Notre-Dame, doch vor allem die Lullusglocke. Der harte, tausend Jahre alte Schlag, monoton und zäh, die Lullusglocke aus Bad Hersfeld. Die Anlage ist laut, unangenehm laut, schon wenn der Tonabnehmer über ein Härchen fährt oder Staub, hört man den klaren Klang eines brechenden Genicks. Meggy befiehlt, dass man sie aufschneidet. Es wird getan, wie befohlen. Der Mann zerschneidet Meggys Kleidung, erst die Pullover, das Hemd und die Bluse, dann den BH und die Hose, dann die lange Unterhose, schließlich die Unterwäsche an den Hüften. Meggy spürt die Rückseite der Klinge auf ihrer Haut, sie friert, sie befiehlt, dass man ihr die Wangen aufschneiden soll, doch der Mann weigert sich und Meggy versteht es und findet ihn abstoßend und gewöhnlich, also schlafen sie auf einem Sessel miteinander und Meggy schmeißt den Mann raus.
–Wer Trinkgeld haben will, der führt Befehle aus!
ruft sie dem Mann hinterher, der nichts erwidert. Es gibt Werte, an die sie glaubt. Mit dem kleinen Finger und dem Mittelfinger zieht sie sich ihren Mund auseinander. Es beginnt zu schmerzen, sehr zu schmerzen, doch das Gewebe gibt nicht auf. Sie nimmt sich ein Kleid aus dem Schrank ihrer Mutter, sofern es ihr passt, und macht Telefonstreiche. Bei Finley an der Hotelrezeption geht niemand ran, auch Donnas leicht genervtes Hallo? hat sie seit ein paar Monaten nicht mehr gehört. Er wird wohl versetzt worden sein. Endlich. Sie hatte gelesen, dass der Fall Vollstricker als zu schwierig für die US-amerikanischen Behörden eingestuft und eingestellt wurde. Spezialisten aus Übersee sollen sich darum kümmern. Sie probiert zehn, vielleicht zwanzig Nummern aus, niemand hebt ab. Sie macht sich eine Pizza im Ofen warm. Sie weiß, dass sie kaum noch Lebensmittel im Haus hat, sie weiß, dass sie kein Geld mehr hat, sie weiß, dass die kommenden Monate nicht mit Gehalt beginnen werden. Sie wird Dinge aus dem Haus verkaufen müssen, wahrscheinlich die Anlage, wahrscheinlich wohl oder übel alles, es ist egal, wovon ich mich trenne. Das kommende Jahr wird das Jahr der Gleichgültigkeit. Sie konnte nicht nachvollziehen, warum Miles ihr das Buch geschenkt hat. Es ist handsigniert, was eine unverschämte Seltenheit bei dieser Misanthropin ist, außerdem dachte sie, dass er Cello verehrte. Dass er ein bedingungsloser Bewunderer gewesen war. War es die Geschichte des Romans, die ihn so abgestoßen hat? Aber wie sollte er sie sich durchgelesen haben in der kurzen Zeit, die knapp dreizehnhundert Seiten in zwei, maximal drei Tagen Krankenhausaufenthalt. Jetzt ist es zu spät, ihn zu fragen. Wenn Meggy es richtig versteht, dann geht es in Brokkoli Zwei vordergründig um den Vater eines Kleinkinds. Neben unzähligen Randfiguren, Zeitebenen, Bilderrätseln und Schatzkarten. Dieser Vater ist Lehrer an einem deutschen Gymnasium in Tokio. Er ist aus Liebesfürchtigkeit zu seiner Frau ins Ausland gezogen, hat seine Heimat hinter sich gelassen. Doch diese Frau verlässt ihn und ihre gemeinsame Tochter nach wenigen Tagen. Man erfährt nicht genau, warum, es ist so, als würde der Lehrer nicht darüber reden wollen. Die Autorin hat schon Interesse an diesem Verschwinden, doch der Lehrer nicht. Sein Problem ist nicht, dass er mit einer starken Alkoholsucht zu kämpfen hat, sondern dass seine Tochter plötzlich verschwindet. Was ihm allerdings nicht bei dem Kampf gegen die Alkoholsucht hilft. Es gibt verstörende Szenen, wie er betrunken im Klassenzimmer herumkriecht, einem Wurm gleich, und seine Schüler anschreit, anbeißt, berührt. Jeden, der ihm über den Weg läuft, lädt er zum Trinken ein. Parallel dazu wird die Geschichte der Kleinkinder der Stadt erzählt, welche mysteriöserweise aus ihren Elternhäusern verschwinden, um sich unter der Erde in einem Kanalisationsschacht zu treffen. Dort bauen sie eine Form von Gegenentwurf zur Gesellschaft über ihnen auf. Der Lehrer findet nun, nachdem er aus der Schule geschmissen wurde, heraus, dass mehrere Eltern in seinem Viertel ihre Kinder verloren haben, und sein Gewissen bessert sich langsam auf. Er geht den Dingen auf den Grund. Anscheinend haben alle Eltern denselben Babybrei aus derselben Fabrik für ihre Kleinen gekauft. Sorte: Brokkoli-Karotte. Während seiner Recherchen lernt er eine alleinerziehende Mutter kennen und fährt mit ihr zu der Adresse, welche auf den Glasbechern angegeben ist. Sie wollen die Herstellerin des Babybreis zur Rede stellen. Sie finden sich im Nirgendwo wieder, ausgetrickst von einem Geheimunternehmen. So weit sind sie jetzt. Frustriert liegen sie im Motel nebeneinander und beginnen eine Affaire. Währenddessen eskaliert die Situation im Staat der Kleinkinder, es gab einen Mord. Um für Recht zu sorgen, übernimmt ein kleines Mädchen die Führung, von welchem Meggy annimmt, dass es die Tochter des Lehrers ist. Sie sagt, dass es so lange keine Gleichheit geben würde, bis alle Bürger des Staates ein Ding seien. Und so bilden sie einen riesigen Haufen aus Kleinkindern und werden zu einem Ding. Zu einem unförmigen Körpermonster nämlich, welches ein wenig später die Stadt attackiert. Es wächst hochhaushoch. Es zermalmt die Menschen und die Stadt unter sich, Züge knicken unter ihm ein. Und bei jedem Hieb, den es ausführt, zerplatzen Hunderte von Kinderkörpern an beispielsweise Glasfassaden oder Leuchtreklamen. Der Weg des Monsters hinterlässt einen Fluss aus Blut und Knochen. Niemand wagt es, den Angreifer zu bekämpfen, weil die Kinder allesamt sterben würden. Wüsste man nur, wo das Gehirn ist, könnte man gezielt zuschlagen, aber es scheint, als gäbe es kein Gehirn. Wie der Lehrer und seine Geliebte das Geschehen verfolgen, kommt ihm eine Idee. Man muss die Kinder außer Gefecht setzen, ohne ihnen Schaden zuzufügen. Man muss sie betrunken machen. Und so füllt die Tokioter Feuerwehr ihre Wassertanks mit Sake und beschießt das Monster. Alle Sake-Reserven der Stadt werden dazu verwendet. Doch schließlich zeigt der Alkohol seine Wirkung und die Kleinkinder schrumpfen in sich zusammen, liegen friedlich und betrunken auf der Straße mit glühend roten Köpfchen und glühend roten Körpern und werden zu Magma. Sie sickern in den Boden und verschwinden vollends. Ein Jungbrunnen bildet sich unter der Stadt und alle Japaner leben fortan für immer, sind aber traurig. Nur der Lehrer und seine neue Frau, beide nun kinderlos und glücklich, ziehen gemeinsam nach Düsseldorf, um dort ein Ramen-Geschäft zu eröffnen. Sie verpassen das ewige Leben knapp, aber entschlossen, und sterben als glückliche alte Restaurantbetreiber. Das würde Meggy nach dem ersten Lesen sagen. Ungefähr darum geht es, also von dem Plot her. Die Kritik jedoch sagt, dass es allgemein bekannt ist, dass solche humoristisch abstoßenden Ungeheuergeschichten Kollektivprojektionen eines monströsen Staates darstellen, und damit unzeitgemäß wären, da der Staat schon seit langem nicht mehr monströs, sondern spektral sei. Wie vernichtend so ein Urteil sein muss. Da liest jemand dein Buch, das, wofür du Jahr für Jahr alles gegeben hast, der liest das ein Mal, vielleicht ein Mal, vielleicht auch nicht, aber auf jeden Fall liest er es nebenbei, etwa auf einer Zugfahrt, das ist sicher, und dann wird kurz entschieden, ob das nun gut oder schlecht ist, und dann ist es gut oder schlecht, und das wars. Dabei weiß doch jeder, wie sich schon alles beim zweiten Lesen dreht und wendet, und beim dritten erst. Meggy fühlt sich zurückerinnert an die alte Zeit, wie sie ihre Mutter angeschrien hat, dass man Journalismus verbieten müsse, dass es außerhalb des Realen nur Ausgedachtes geben dürfe, sonst würden die Grenzen verwischen und alle würden verrückt werden und grausam für immer. Sie stopft sich das letzte Achtel Pizza in den Mund. Ihre Hände riechen nach Sex. Kaum mehr drei Stunden, bis es Null Uhr ist. Ich werde sowieso zum Kornsilo fahren. Dann kann ich mir auch gleich ein Taxi bestellen, und sie leert die Flasche Port, deren Verschluss sich heute Morgen knackend und jungfräulich zum ersten Mal seit seiner Manufaktur vom Hals drehte. Der letzte Tropfen fällt hellschwarz neben das Glas. Außer ein paar Kerzen und der Anzeige der Anlage gibt es keine Lichtquellen im Haus. Sie hatte sich schon lange alle Art von elektronischem Licht abgewöhnt. Sie hatte gemerkt, dass sich auch Stricher etwas beruhigen würden, wenn Meggy weichgezeichnet ist. Sie zündet ihre Zigarette an einer Flamme an, löscht alle, nimmt sich zwei weitere Packungen, ihre letzten, aus einer Küchenschublade, dazu alles Bargeld, was sie noch hat, was alles Geld ist, was sie noch hat, welches in etwa für eine Taxifahrt zu dem Kornsilo reichen würde, ohne Trinkgeld, und verlässt das Haus. Sie winkt sich ein Taxi herbei. Das Gesicht des Taxifahrers oder der Taxifahrerin ist hinter einem bunten Schal versteckt. Selbst der Rückspiegel ist beschlagen, doch die Fahrt sehr sicher. Kein Blick aus dem Fenster ist nötig. Meggy zeichnet Strichmännchen an das Autofenster. Sie spielt eine Runde Tik Tak Toe gegen sich selbst und gewinnt, genauso wie sie sich stets im Halma besiegt. Als das Licht im Rücksitzbereich angeht, nimmt Meggy an, dass die Fahrt beendet ist, und legt all ihr Geld in die Schüssel vor ihr. Ohne Kommentar ihrerseits oder andererseits verlässt sie den Wagen. Sie muss noch ein Stück zu Fuß gehen, hört aber schon die Geräusche der Party, das dumpfe Gejubel und Gegröle, die Lacharten ganz spezieller Personen, die sie schon von weitem erkennt. Als hätte die Taxifahrerin oder der Taxifahrer gewusst, dass Meggy nicht wirklich genügend Geld dabeihatte, wurde sie zu früh rausgelassen. Sie will sich beschweren, doch das Taxi ist längst verschollen. Zurück nach Hause ist es ein ziemliches Stück, zumindest zu Fuß, denkt sie, und es ist ihr egal. Also geht sie dem Lärm entgegen. Sie klopft sich auf die Innentasche ihres Mantels und bemerkt, dass sie Streichhölzer vergessen hat. Sie versucht eine Zigarette mit dem Feuerzeug anzuzünden, das im Schnee liegt. Sie bemerkt, dass sie verzweifelt ist, dass sie kurz davor ist, ihren Verstand zu verlieren. Sie muss sich konzentrieren. Sie wünschte, sie wäre betrunken. Sie hat es verdient, betrunken zu sein. Auf dem Weg zum Kornsilo mehren sich Zigarettenstummel, Sektflaschen und Krater im Schnee. Rote Überreste von Knallkörpern. Sie stellt sich an die kleine Schlange, die sich vor den beiden Türstehern gebildet hat. Sie kennt die Menschen um sich nicht, sie sind jünger, haben dieses Jahr ihren Abschluss gemacht, vielleicht letztes. Sie sind über die Feiertage zurückgekommen von ihren Studienplätzen oder Militärbasen, oder sie wohnen noch bei ihren Eltern. Eine Gruppe von Jugendlichen steigt aus einem Auto aus, niemals sind die 21, denkt sich Meggy.
–Jahrgang?
fragt sie einer der Türsteher.
–Abschluss '96.
–Name?
–Corey.
–Wie nochmal?
–Meggy Corey.
–Nein. Steht hier nicht.
–Ich war aber in dem Jahrgang. Lassen Sie mich einfach rein.
–Ihr Name steht hier nicht, junge Frau.
–Zeigen Sie mal her, der muss hier aber.
Und manchmal treffen einen Schläge härter, als man denkt, egal wie oft einem schon die Fresse eingeschlagen wurde, manchmal treffen einen Schläge, als wäre es das erste Mal, egal wie hart der Panzer ist, egal wie hoch die Mauer, manchmal, wenn man es nicht erwartet, da treffen einen Schläge, als wäre man ein Neugeborenes.
–Da. Da steht er doch. Da steht mein Name. Fettes Schwein. Das bin ich.
–Haben Sie denn einen Ausweis?
Es kichert jemand hinter ihr in der Reihe. Meggy dreht sich um und packt sich den erstbesten an der Gurgel.
–Ich töte dich.
–Fräulein. Ist ja gut. Es war bloß ein Spaß. Ein kleiner Spaß. Kommen Sie schon.
Und der andere Türsteher drückt ihr eine Handvoll mit Getränkecoupons zu, heimlich. Noch nie in seinem Leben hat er sich so geschämt. Er wird den Job hinschmeißen. Er will heilig werden. In einem Fahrstuhl fährt sie auf das Dach des Silos. Die Musik ist laut und Meggy kann kaum bis zum Boden schauen, so dick ist die Nacht. Hier und da stehen Heizpilze, kleine helle Punkte in Grün und Blau und Gelb und Rot, viel Rot, und Weiß, vielleicht Orange. Kein Gesicht kommt ihr bekannt vor und trotzdem hat sie das Gefühl, alle Gesichter zu kennen. Alle Gesichter dieses Landes. Alle Geschichten dieses Landes schon zu kennen. Nur eines nicht. Sie geht an die Bar und bestellt sich und dem Barkeeper einen doppelten Widowed Bride. Sie fragt nach Streichhölzern und zündet sich endlich eine Zigarette an.
–Wie kommt es, dass alles immer gleich ist?
–Entschuldige?
–Noch zwei Bride.
Es ist ja doch egal, denkt sich Meggy, deren linker Seidenstrumpf dunkler und feinmaschiger ist als der rechte, und bei genauerer Betrachtung sieht es so aus, als würde dieser Junge vor ihr einen Parka mit einem Hakenkreuz an der Schulter tragen. Die Leiber und die Sätze, eines wird zum anderen. Kein Messer kann sie mehr zerschneiden. Sie ist sich sicher, dass sich Benjamin MacNash ein paar Meter von ihr entfernt mit Nataly Hay streitet. Es schaut aus, als würde er den Streit gewinnen. Seine Sommersprossen sind zurückgegangen mit den Jahren. Er hält Nataly am Unterarm fest. Sie wendet sich von ihm ab, er zieht sie zu sich heran. Sie errötet, Benjamin zieht Natalys Kinn zu sich hoch. Er flüstert
–Nicht alles ist so schlimm, nicht alles.
Oder steht da nur Nataly? Außer den beiden scheint niemand auf dem Silo zu sein. Es gab nie eine Party, es war ein Trick von Nataly. Nataly hatte sie in eine Falle gelockt. Meggy erstarrt für einen Moment, dann treffen sich die Blicke der beiden Frauen, mochten sie sich denn nicht, waren sie sich Freunde gewesen? Kann man denn nicht vergessen, was war? Sie sind die einzigen Überlebenden auf dieser Insel. Nataly fixiert Meggy, sie hebt ihre Hand zum Gruß. Zum Gruß? Hebt sie ihre Hand nicht etwa zum Angriff, ist das ein Säbel? Nataly trägt Fäustlinge, niemand kann sehen, dass auch ihr ein Ringfinger fehlt. Meggy hat gar nichts, sie trägt keine Handschuhe, ihre Hände sind so hässlich, nein, das sind gar keine Hände, sie hat keine Hände mehr. Nataly hat Fäustlinge. Fäustlinge, warum ist sie nicht selbst auf die Idee gekommen, warum hatte sie aufgegeben? Warum hat sie aufgegeben? Meggy will nicht mehr da sein, niemand soll sie mehr sehen können. Sie will ein Zwerg sein unter einer Tarnkappe. Sie dreht sich weg, drückt sich zwischen tanzenden und engen Gästen vorbei zur Toilette, wo keine Kabine frei ist, und zurück zur Bar. Sie ist auf Gin umgestiegen, farbloser Alkohol steht ihr besser, sie spürt ihre Füße nicht mehr, zurück zur Toilette, sie drängelt sich an Mädchen vorbei
–Ich warte schon länger!
und schließt sich ein. Sie spürt ihre Beine nicht mehr. Sie nimmt eine Stecknadel aus ihrem Haar, macht die Spitze heiß und drückt sie sich ins Knie. Ein Tropfen Blut, kein Schmerz. Was hatte sie hier verloren? Was wollte sie hier? Was sollte das denn alles? Kein Klopfen kann mich aus dieser Kabine holen. Nichts. Es gibt keine Macht über mich. Was Nataly zu erzählen hätte. Nichts. Wie man ihr einmal das Kind aus dem Kinderwagen stahl, wie sie einmal einen Stein gebar, wie sie sich verliebte und verliebte und verliebte und sie niemand überlebt hatte, außer einer Stripperin, die sie vergiften will. Von ihrem Sohn. Sie hätte von ihrem Sohn erzählen können, und wie er sie anblickt. Wie er lächelt, wie seine Füße nach Apfel schmecken, wenn er aus der Badewanne kommt. Es wäre Meggy egal gewesen. Meggy an der Bar. Nur noch wenige Minuten bis Mitternacht. Mit ihren letzten zwei Coupons bestellt sie sich und dem Barkeeper zwei Gin Soda. Die Gläser schlagen gegeneinander.
–Auf dich, mein Freund und Gefährte, wir werden uns nicht wiedersehen.
Sie hatte sich gut mit dem Barkeeper verstanden, es war ihr momentan der liebste Mensch im Leben. Sekunde für Sekunde rutscht sie näher an den Rand des Kornsilos, sie spürt das Geländer, wie sich ihre Hand darum schließt. Einzeln steigen bereits Raketen in den Himmel und hinterlassen bunte Kratzer auf der Nachtdecke. Jemand in ihrem Alter stellt sich neben sie.
–Weißt du, Meggy, was sie bei mir geschrieben haben? Gar nichts. Mein Name steht nicht auf der Liste. Die Türsteher wollten mich nicht reinlassen, doch ich sage: Abschluss '96. Dann zeigen sie mir die Liste und ich bin nicht drauf. Ich bin einfach nicht drauf. Ich suche bei '95, ich suche bei '97, sogar bei '98 und '94 habe ich gesucht, aber nein, ich bin nicht vorhanden. Sie haben mich nicht auf die Liste geschrieben. Gar nichts. Sie haben mich vergessen. Also zeige ich den Türstehern das Jahrgangsfoto, ich habe immer ein Jahrgangsfoto dabei, weißt du, Meggy, ich zeige ihnen, wie ich in der vorletzten Reihe stehe und lächle, nicht besonders überzeugend, das nicht, aber ich versuche es wenigstens. Für ein paar Dollar haben sie mich reingelassen. Eine Frechheit. Eine Gemeinheit. Findest du nicht? Sie haben mich vergessen.
Er trinkt einen Schluck Bier. Er ist kleiner als Meggy.
–Wie war nochmal dein Name?
–Alfred. Alfred Frederick Klekle, aber meine Freunde nennen mich –
–Wie?
–Ich sagte: Ich heiße Alfred Frederick Klekle.
–Nie gehört.
–Alfred? Nein? Klein, schüchtern, gar nicht dumm, gar nicht schlau? Manchmal habe ich Fliege getragen, damals schon, aber niemand hat sich darüber lustig gemacht.
–Entschuldige, aber –
–Wir waren zusammen in Chemie. Ich glaube, wir hatten sogarzusammen Mathe. Und in der Schülerzeitung war ich auch, Meggy, ich habe mal Fotos für einen Artikel von dir geschossen. Der Artikel über den Unfall, du weißt schon, der Lastwagenfahrer und das Pärchen, da war ich bei dir, die ganze Zeit. Weißt du das nicht mehr?
–Alfred. Nein, ich kann mich beim besten Willen –
–Ich war so verrückt nach dir. Und weißt du, mein Vater sagt, es ist nie falsch, nach dem richtigen Mädchen verrückt zu sein.
–Alfred?
–Du erinnerst dich wirklich nicht, oder?
–Doch, doch, ich –
–Du hast keine Ahnung.
–Der Name kommt mir auf jeden Fall –
–Wirklich das ist –
Ein Böller explodiert vor ihren Füßen, doch keiner der beiden erschreckt sich.
–schade.
–Es tut mir leid.
Alfred schaut sie an, sagt nichts.
–Also, und was machst du jetzt?
Meggy ist nicht mehr ganz anwesend. Es schaut aus, als hätte Alfred kein Gesicht, als wäre es eine Masse, in sich übergehend, sich mit sich selbst vermengend, wabernd. Verschiebungen, Schnitte, Schichten von Tapete unter Schichten von Tapeten.
–Willst du das wirklich wissen, Meggy?
–Ja, ich, ja, erzähl doch mal.
Meggy hört ein helles Fiepen.
–Ich arbeite bei einer Versicherung.
Das Geräusch von Napalm.
–Aber eigentlich, eigentlich will ich Drehbücher schreiben. Ich habe auch schon mal eins geschrieben und ich finde, dass es wirklich gut ist. Es geht um einen Jungen in einer dänischen Kleinstadt, gleich am Wasser, gleich am Meer, gleich am Wind, wie er aufwächst und all seine Hoffnung verliert.
–Und dann?
–Ende.
–Du hast Miles getötet.
Meggy fällt die unnatürlich hohe Stimme auf, sie bringt sie mit dem Gesicht in Verbindung. Ihr Blick ist klar, sie wünschte, betrunken zu sein, doch ihr Blick ist klar, und sie sieht, wie ihr Gegenüber sieht, dass ihr klargeworden ist, wer er ist.
–Du hast Miles getötet.
Oder wie er verwundert dasteht.
–Wen? Was redest du denn da?
Meggy blickt auf das Geländer. Es ist niedrig. Mäuler um sie beginnen damit, von Zehn rückwärts zu zählen. Und ohne ein Wort stößt sie Alfred zum Rand.
–Meggy, was, ich –
Er will seine Arme um sie schließen. Er will sich an sie klammern, er will seine Wärme mit ihr teilen, er will bei ihr sein.
–Lass uns verschwinden aus dieser Stadt. Lass uns einfach verschwinden. Zusammen.
Er versucht sich zu halten. Er krallt sich in sie. Sie schlägt ihn von sich.
–Du hast Miles umgebracht. Du musst es gewesen sein. Nur du kannst es gewesen sein.
Alfreds Körperschwerpunkt verschiebt sich. Die Schwerkraft küsst ihm spitz zwischen die Schulterblätter. Und Meggy weiß, dass sie aufgehört hat zu existieren, vor einer langen Zeit schon, und noch ein kleines Stück, und eine Panik ergreift Alfred, eine so schreckliche Panik, er verliert alle Kraft. Sein Gesicht ist grau. Seine Augen schwarz oder silbern. Seine Lippen versuchen Meggy zu formen, vielleicht Familie, doch formen sie ein anderes Wort. Sie ist sich sicher, er schimpft sie eine Mörderin, und als wäre da kein Widerstand, drückt sie und er ist weg, fällt, wird schwerelos, bricht sich das Genick am Rand des Jahrtausends, und Meggy weiß, sie weiß es, dass die Erde allein schweben wird im Weltall, dass es Morgen werden wird und dass die Sonne aufgehen wird und dass es kälter werden wird, mit jedem Tag, und der Punkt, den die Sonne am Himmel bildet, wird kleiner werden, mit jedem Tag, bis er verschwunden ist, bis eine Nacht anbricht, die nie endet. Sie spürt die Hände derer, die sie beobachtet und begleitet haben, wie sie sie in ihre Umarmung schließen, und sie schaut hinunter und der Leichnam ist verschwunden oder läuft aus oder ist an einem Ort, der sich nicht formulieren lässt, und sie steht ihnen gegenüber, von Angesicht zu Angesicht, und sie nicken ihr zu, und sie lächeln, und ihre Zähne sind weiß wie Papier.
Impressum
Erstveröffentlichung
Fiktion, Berlin, 2014
Projektleitung
Programm: Mathias Gaza, Ingo Niermann
Projektleitung
Kommunikation: Henriette Gallus
Lektorat:
Mathias Gatza
Korrektorat:
Rainer Wieland.
Graphikdesign:Vela
Arbutina
Programmierung:
Maxwell Simmer (Version House)
Das Copyright für die Texte liegt beim Autor.
Fiktion wird getragen von Fiktion e.V., entwickelt in Kooperation mit dem Haus der Kulturen der Welt und gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes.
Fiktion e.V., c/o Mathias Gatza, Sredzkistrasse 57, D-10405 Berlin
Vorstand: Mathias Gatza, Ingo Niermann
Vereinsregisternr. VR 32615 B beim Amtsgericht Charlottenburg (Berlin)